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Auslese Vinyl

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Auslese Vinyl

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Faith No More Introduce Yourself
Faith No More
INTRODUCE YOURSELF/THE REAL THING/KING FOR A DAY, FOOL FOR A LIFETIME
Music On Vinyl/Cargo

Auf Nummer sicher gehen oder ein Leben lang ein Idiot bleiben?

Als Ende der 80er Jahre die Tage des Hairspray-Metals gezählt sind, weil Grunge und Crossover dominant übernehmen, dürfen sich auch fünf Jungs von der Westküste gegenseitig gratulieren: Halfen Faith No More doch tatkräftig mit, dass sich aus dem lokalen Trend ein weltweiter Boom entwickelte. Lange genug ausgehalten hatte das 1981 aus der Taufe gehobene Ensemble aus San Francisco, das landauf und landab in jeder beschissenen Kaschemme spielte, bis sich die Lokalitäten langsam aber sicher vergrößerten. Richtig funktioniert hat das mutige Konzept aus Metal, Funk, Rock, Rap und Experiment aber erst, als 1989 auf THE REAL THING statt Chuck Mosley Mike Patton das Mikrofon übernahm. Der noch etwas ungelenk produzierte Vorgänger INTRODUCE YOURSELF von 1987 hatte mit dem Hit ›We Care A Lot‹ aber immerhin einen Achtungserfolg erzielt. Vor allem im Ausland: Großbritannien und Australien fanden als erste Gefallen am noch etwas kruden Genre-Mix. Mit THE REAL THING änderte sich schlagartig alles. Immens erfolgreiche Auskopplungen (›Epic‹, ›From Out Of Nowhere‹, ›Falling To Pieces‹) warf der weltweite Platinverkaufshit ab und wartete auch noch listig mit einer Coverversion von Black Sabbath auf: ›War Pigs‹. 1995 hatte sich das Blatt schon wieder gewendet: LIVE AT THE BRIXTON ACADEMY, das Studiowerk ANGEL DUST und die unglaublich lässige Version ›Easy‹ von The Commodores sind schon wieder abgehakt. KING FOR A DAY… FOOL FOR A LIFETIME erweist sich als eigenwillig exotisches Experiment ohne signifikanten Hit. ›Ricochet‹, ›Evidence‹ und ›Digging The Grave‹ bleiben als Auskopplungen irgendwo im Mittelfeld kleben. Trotzdem ein überaus interessantes Übergangswerk, das seine Momente hat: Da wippt elegant das lateinamerikanische ›Caralho Voador‹, swingt das großorchestrierte ›Star A.D.‹, zieht einen die Trinkerballade ›Take This Bottle‹ mächtig runter, tritt einem der manische Titelsong in die Klöten und das hartmetallische Manifest ›The Gentle Art Of Making Enemies‹ sprüht geradezu vor schwarzem Humor.

INTRODUCE YOURSELF:
5
THE REAL THING:
10
KING FOR A DAY, FOOL FOR A LIFETIME: 7

Booker T. & The MG’s
AND NOW!/DOIN’ OUR THING
Music On Vinyl/Cargo 18.12.

Wir machen unser Ding: Vom zufälligen Clubhit zum Legendenstatus.

Kaum zu glauben, aber wahr: ›Green Onions‹, instrumentaler Tanzflächen-füller der Prä-Beatles-Ära, der längst zu den Evergreens zählt und bis heute Einsatz in TV-Werbespots und Kinofilmen findet, kam als reines Zufallsprodukt in einer Studiopause zustande: Keyboarder Booker T. Jones, Gitarrist Steve Cropper, Bassist Lewie Steinberg und Drummer Al Jackson Jr. warfen sich gegenseitig die Bälle zu und fertig war die Laube. Es war der Start eines ereignisreichen Nebenjobs für sämtliche Beteiligte, die eigentlich in der Studioszene von Memphis Soul-Interpreten wie Wilson Pickett, Carla Thomas, Otis Redding und Sam & Dave begleiteten. Binnen Monaten emanzipierte sich die Booker T. & The MG’s getaufte Truppe und erspielte sich im Laufe von Dekaden schließlich Legendenstatus. Bis in die zweite Hälfte der 70er Jahre lieferte das Quartett kontinuierlich Alben. Als AND NOW! im Herbst 1966 auf den Markt kommt, ersetzt Bassist Donald „Duck“ Dunn endgültig Lewie Steinberg. Steve Croppers mit Wilson Pickett co-komponiertes Soulmanifest ›In The Midnight Hour‹, Rudy Toombs Jazzklassiker ›One Mint Julep‹ und das quirlige Eigengewächs ›Soul Jam‹ werten die vom typischen Hammondorgel-Klangzauber der MG’s getragene Produktion auf. George Gershwins ›Summertime‹ gerät zur melancholischen Schwelgerei. Lee Dorseys ›Working In A Coal Mine‹ swingt ebenso lässig wie Les Browns Standard ›Sentimental Journey‹. Im eleganten Latin-Jazz-Arrangement funktioniert ›My Sweet Potato‹. Um den Anschluss an die Beat- und Psychedelic-Welle nicht zu verpassen, setzen Booker T & The MG’s 1968 mit DOIN’ OUR THING auf Zeitgemäßeres: Selbstkomponiertes wie ›I Can Dig It‹ und ›Blue On Green‹ besitzen abermals gewaltiges Diskothekenpotenzial. Sonny & Chers ›The Beat Goes On‹, Bobbie Gentrys ›Ode To Billie Joe‹ und ›You Keep Me Hanging On‹ von The Supremes tragen dem Zeitgeist Rechnung.

AND NOW!:
8
DOIN’ OUR THING:
8

J.J. Cale
TROUBADOUR
Analogue Productions

Der knorrige Troubadour mit dem Überhit.

Neil Young wusste den Meister des gepflegt virtuosen Spiels und lässig vernuschelten Gesangs noch kurz vor dessen Tod im Alter von 74 Jahren zu würdigen: „Von sämtlichen Musikern, die ich im Laufe meines Lebens gesehen und gehört habe, sind Jimi Hendrix und J.J. Cale die mit Abstand besten Gitarristen“. Wirkliche Anerkennung wurde dem „Schweiger aus Tulsa“, ein übrigens ebenso dämliches Etikett wie das von George Harrison , der stets als der „schweigsame Beatle“ galt, nur bedingt und in unregelmäßigen Intervallen zuteil. Mit seinem vierten Album TROUBADOUR von 1976 erzielte der begehrte Studiomusiker erstmals auch außerhalb seines Heimatlandes größere Aufmerksamkeit – ein einmal mehr Eric Clapton zu verdankender Umstand. Nach Claptons Version von Cales ›After Midnight‹ auf seinem selbstbetitelten Debüt von 1970 spielte er nun auch noch dessen ›Cocaine‹ für SLOWHAND ein – ein Welthit für Clapton, der aber erstaunlicherweise Cales Version nach sich zog, damit für weltweit vernünftige Umsätze von TROUBADOUR sorgte und ihm auch in Deutschland den Durchbruch bescherte. Bis auf Sonny Curtis’ ›I’m A Gypsy Man‹ stammen die restlichen elf Songs sämtlich aus der Feder des ewig unrasierten kleinen Mannes mit der übergroßen Aura. Ein Werk wie aus einem Guss, das mit Kleinoden wie ›You Got Something‹, ›Ride Me High‹, ›The Woman That Got Away‹ und ›Let Me Do It To You‹ den Grundstein für den späteren Americana-Boom legte. Keiner knurrt so herzzereißend ›You Got Me On So Bad‹ wie J.J. Cale. Clapton, der mit ›Cocaine‹ einen seiner größten Erfolge erzielte, blieb Cale ein Leben lang treu: Er lud ihn immer wieder zu seinem alljährlichen Festival CROSSROADS, spielte aber auch ›Travelin’ Light‹ von TROUBADOUR selbst 2001 für sein Album REPTILE ein.

10

Can
CAN VINYL BOX
Spoon Records/Rough Trade

Experimentelles aus der Dose: 17-teilige LP-Kollektion von Deutschlands visionärem Ausnahmeensemble.

Preise im bis zu vierstelligen Bereich erzielen die Vinyl-Originale heutzutage je nach Erhaltungszustand. Im wahrsten Sinne des Wortes Raritäten also – denn allzu viele Exemplare setzte das 1968 von Keyboarder Irmin Schmidt und Bassist Holger Czukay in Köln gegründet Experimentalkollektiv, das sich mit Gitarrist Michael Karoli, Schlagzeuger Jaki Liebezeit und schließlich Vokalist Malcom Mooney komplettiert, zumindest anfänglich nicht ab. Insgesamt 17 Scheiben im Originalcover vereinen sich unter Zugaben wie Poster und Booklet in der CAN VINYL BOX: MONSTER MOVIE setzt 1969 – zeitgleich wie die Münchner Kollegen von Amon Düül II – auf experimentelle Improvisation an der Schnittstelle zwischen Rock, Blues, Soul, Funk, Jazz, World, Avantgarde und Psychedelic. Doch im Gegensatz zu den Düüls speist sich der künstlerische Output von Can mehrheitlich aus professioneller Ausbildung am Konservatorium. ›Yoo Doo Right‹, ein auf 20 Minuten editiertes Sechsstundenoriginal, entwickelt sich zum Tanzfavoriten in Underground-Diskotheken. Auf SOUNDTRACKS sammeln sich 1970 stimmige Auftragskompositionen für Film- und TV-Produktionen. Mooney, schwierig im persönlichen Umgang, verewigt sich noch einmal auf ›Soul Desert‹ und ›She Brings The Rain‹ – den Rest übernimmt der Neuzugang, Straßenmusikus Kenji „Damo“ Suzuki. Das Doppelwerk TAGO MAGO entsteht wie die beiden Vorgänger auf Schloss Nörvenich nahe Köln, wo die Truppe kostenlos lebt, wohnt, aufnimmt und experimentiert – Mäzenatentum macht’s möglich: dem Kunstsammler Christoph Vohwinkel sei Dank. Can verewigen sich in Überlänge: ›Halleluhwah‹ stößt an die 20-Minutenmarke, ›Aumgn‹ liegt nur wenig drunter und ›Peking O‹ bringt es auf immerhin noch fast 720 Sekunden. Da wirkt der relativ strukturierte Opener ›Paperhouse‹ mit gerade mal 7.28 Minuten fast schon kurzatmig. Der Durchbruch erfolgt hierzulande 1972 mit EGE BAMYASI, entstanden im nunmehr hauseigenen Inner Space Studio in Weilerswist. Möglich macht den Erfolg vor allem die Singleauskopplung ›Spoon‹, Themenmelodie des dreiteiligen TV-Krimistraßenfegers „Das Messer“, die sich mehr als 300.000 mal verkauft. Mehrheitlich in ätherischen Ambientwolken schwebt indes 1973 FUTURE DAYS, als Ausnahme fungiert die Single ›Moonshake‹. Auf SOON OVER BABALUMA, das noch tiefer Ethnoklänge auslotet, übernehmen sowohl Irmin Schmidt als auch Michael Karoli die Sangespflichten vom ausgeschiedenen Suzuki. Ein flotter Richtungswechsel erfolgt 1975 auf LANDED: Kurz, knackig und verrockt empfehlen sich ›Full Moon On The Highway‹ und das TV-Serien-Thema ›Hunters And Collectors‹. Einmal mehr bedient sich die Band bei Folkloristischem. Exotische Schwelgereien leisten sich Can im 13-minütigen ›Unfinished‹. Abermals ein neues Kapitel schlägt FLOW MOTION 1976 auf: Die Singleauskopplung ›I Want More‹, von einem englischen Musikkritiker spöttisch „Funk-Sauerkraut“ genannt, platziert sich gar in den UK-Charts. Mit Fortsetzung auf der B-Seite ›…And More‹ nehmen Can das Konzept der Talking Heads um REMAIN IN LIGHT vorweg.

›Smoke (E.F.S. No. 59)‹ zündet visionär im Prä-Techno-Rausch. Reggae-Rhythmen beginnen zu dominieren. In erweiterter Besetzung mit ehemaligen Mitgliedern von Traffic, Bassist Rosko Gee und Perkussionist Rebop Kwaku Baah, entsteht 1977 SAW DELIGHT. Das Konzept umfasst nun World Music mit Schwerpunkt Lateinamerika, Afrika und Fernost im Jazz-Kontext. Reduziert auf Elektronisches, zieht Holger Czukay 1978 die Konsequenzen: OUT OF REACH oszilliert unentschieden zwischen Latin Jazz, Club Disco und frühen Can. Mit dem fade geratenen CAN haucht das wichtigste deutsche Experiment seit Karlheinz Stockhausen 1979 sein Leben vorerst aus. Erst zehn Jahre später vereint sich das Kernquartett erneut mit Ursänger Malcolm Mooney auf RITE TIME. Durch zeitlose Produktionsstile schließt das zwölfte und finale Werk nahtlos an MONSTER MOVIE an. Archivauswertungen liefern DELAY 1968 und das doppelte UNLIMITED EDITION mit jeder Menge Unveröffentlichtem. CAN LIVE, ein Mitschnitt von 1975 in der Sussex University, blieb bislang ebenfalls unveröffentlicht.

10

Eagles
THE STUDIO ALBUMS 1972-1979
Elektra/Warner

Bitte noch einen Tequila Sunrise: sechs Cowboy-Imitationen, die die Welt eroberten.

Für immerhin ein Jahrzehnt gilt die amerikanische Formation mit der Freiheit assoziierenden Namensme-tapher als Inbegriff des modernen American Way Of Life. Aber auch als typisches Beispiel für die Gigantomanie jener hedonistischen Ära. Mit kompakter Virtuosität – jedes Mitglied spielt mehrere Instrumente, singt und komponiert astrein – sowie einer Fusion aus Bluegrass, Country, Folk, Pop und Rock’n’Roll definieren die von Gitarrist Glenn Frey und Schlagzeuger Don Henley geleiteten Eagles den Rock-Mainstream der Post-Hippie-Ära. Ein erstaunlich flexibles Repertoire, wie das liebevoll in originalen Coverrepliken sowie mit einigen Überraschungsextras aufbereitete THE STUDIO ALBUMS 1972-1979 demonstriert. Im Popmekka London unter der Ägide von Produzent Glyn Johns entsteht 1972 das selbstbetitelte Debüt mit den veritablen Hitsingles ›Take It Easy‹, ›Witchy Woman‹ und ›Peaceful Easy Feeling‹. Ein Traumstart zwischen rustikalen Wurzeln, Pop-Ohrwürmern und unüberhörbaren Reminiszenzen an die Väter des Country-Rock: The Byrds, Poco, Flying Burrito Brothers und natürlich Gram Parsons. Neun Monate später setzt sich das durch den ehemaligen Burrito-Brother Bernie Leadon sowie Ex-Poco Randy Meisner komplettierte Urquartett mit der epischen Westernoper DESPERADO über die legendäre Doolin-Dalton-Gang selbst ein Denkmal. Hymnen wie ›Tequila Sunrise‹ und ›Outlaw Man‹ avancieren zu Fanfavoriten. Konzessionen an den Popmarkt macht 1974 ON THE BORDER. Neu an Bord befinden sich der multitalentierte Don Felder und Produzentenass Bill Szymzyk, der sich die Arbeit mit Glyn Johns teilt. ›James Dean‹ und ›Already Gone‹ fungieren als Auskopplungen. Für ›Best Of My Love‹ winkt gar eine Grammy-Nominierung. Noch griffiger gelingt ein Jahr später das von Szymzyk alleine betreute ONE OF THESE NIGHTS. Mit weniger Country Rock, aber gerade noch soviel Integrität zwischen dezenten Funkschüben im Titelsong, balladesker Popkompatibilität (›Take It To The Limit‹) und intensivem FM-Rock (›Lyin’ Eyes‹), dass es nicht die Basisfangemeinde vergrätzt. Ein Umstand, der mit dem mehr als 32 Millionen mal verkauften HOTEL CALIFORNIA inklusive dreier Singlesrenner (u.a. ›Life In The Fast Lane‹, ›New Kid In Town‹) und Joe Walshs Rekrutierung für den zermürbten Bernie Leadon ad absurdum geführt wird. Es ist ein unverblümt artikuliertes Konzeptwerk über den Verdruss an der oberflächlichen Wegwerfgesellschaft des Westküstensonnenstaates. Mit Ex-Poco Timothy B. Schmitt als Ersatz für Randy Meisner meistert das finale Gruppenepos THE LONG RUN 1979 nahtlos den Übergang vom Hippie-Cowboy zum Yuppie-Millionär. Zwischen paranoidem Kokainwahn, Wille zum Experiment und internen Querelen gelingt ein facettenreiches Werk abseits gewohnter Klischees, das den Hitvorgänger mit gezielter Hard-Rock-Tendenz auch noch kräftig ironisiert.

9

The Godfathers
BIRTH, SCHOOL, WORK, DEATH/MORE SONGS ABOUT LOVE AND HATE
Red Label/SPV

Kurz und knackig: mit essenzieller Rockformel gegen die Monotonie des Lebens.

Nomen est omen: Als das Londoner Ensemble mit messerscharfem Rock’n’Roll und R&B gegen den Trend der wavigen Frühachtziger anspielte, nannte es sich hintersinnig The Sid Presley Experience. Doch erst als sich Sänger Peter Coyne, Bassist Chris Coyne, Schlagzeuger George Mazur sowie die Gitarristen Mike Gibson und Kris Dollimore nach jenem Roman von Mario Puzo benannten, der es unter der Regie von Francis Ford Coppola auch zur legendären, mehrteiligen Hollywoodverfilmung brachte, horchte die Welt auf – zumindest einige Minuten lang: The Godfathers. Mit dem ansprechenden Indie-Debüt HIT BY HIT von 1986 passierte recht wenig, doch das zwei Jahre später auf Epic veröffentlichte BIRTH, SCHOOL, WORK, DEATH zündete mit Bravour, angeschoben vom packenden Titelsong, der uns Menschen den ganzen Irrsinn unseres täglichen Daseins von der Geburt bis zum Tod mit voller Wucht entgegen knallt. Es sind elf granitharte Rockhymnen ohne einen einzigen schwachen Moment. Mal mit verwegenen psychedelischen Klangspielereien (›When Am I Coming Down‹), mal mit ultrageradlinigem Schmackes (›’Cause I Said So‹) verabreicht, dass sich die wiedervereinigten New York Dolls Dekaden später gar an eine Coverversion wagten. Wer an sich abgeschmackten Boogie-Rhythmus so verführerisch wie in ›The Strangest Boy‹ zum Einsatz bringt, müsste eigentlich Einzug halten in die Rock’n’Roll Hall Of Fame. Doch so viel Glück war den Paten leider nicht beschieden. Trotz adäquatem Nachfolger MORE SONGS ABOUT LOVE AND HATE ein Jahr später, auf dessen wunderbarem Cover sich leicht verfremdet die beiden Streithähne und Saufkumpane Elizabeth Taylor und Richard Burton tummeln. ›She Gives Me Love‹, ›Pretty Girl‹ und ›This Is Your Life‹ zapfen Energie aus der gleichen unversiegbaren Quelle, aus der sich einst schon The Pretty Things und Dr. Feelgood ausgiebig bedienten. Zu tiefsinnigen Analysen (›Life Has Passed Us By‹) gelangt das Quintett ebenso wie zur fabelhaften Hommage im ›Walking Talking Johnny Cash Blues‹.

BIRTH, SCHOOL, WORK, DEATH: 8
MORE SONGS ABOUT LOVE AND HATE: 9

The Jesus And Mary Chain
THE COMPLETE VINYL COLLECTION
Demon Records/Soulfood

Glücklich, wenn es regnet: 11-LP-Box zum runden Jubiläum.

Legendenstatus bedeutet nicht unbedingt hohe Umsatzzahlen – The Velvet Under-ground dienen da als eindrucks-
volle Beispiele. Nahezu unbegrenzte Übertragungsfähigkeit auf nachfolgende Musikergenerationen zahlt sich langfristig dann aber doch aus. Bewusst als Neuauflage von The Velvet Underground inszeniert sich die 1983 aus der Taufe gehobene schottische Formation The Jesus And Mary Chain um das verhaltensauffällige Brüderpaar Jim und William Reid. Zum 30. Bandjubiläum fassen sich nun sämtliche Studiowerke mit einigen Überraschungen in THE COMPLETE VINYL COLLECTION zusammen: Rasch zu Idolen der damaligen Gegenkultur avanciert die Band 1985 mit dem grandiosen Meilenstein PSYCHOCANDY, der auch Lou Reeds Sinnesattacke METAL MACHINE MUSIC zitiert. Mit hohem Suchtfaktor verändern Hymnen wie ›Just Like Honey‹, ›Never Understand‹, ›Some Candy Talking‹ und ›You Trip Me Up‹ den Brit-Pop nachhaltig. Wo viel Licht hinfällt, lauern dunkle Schatten – der schwierige Nachfolger DARKLANDS ein Jahr später führt beinah zur Trennung. Substanziell überzeugt das Material dennoch: Vom wetterwendischen ›April Skies‹ über den wuchtigen Titelsong bis hin zur coolen Depressions-Ode ›Happy When It Rains‹. Die nur im Duo getätigte Produktion AUTOMATIC fällt 1989 in der Qualität hingegen deutlich ab. Mit einem Zuviel an elektronischem Schnickschnack aus pumpendem Synthesizer-Bass, flirrendem Keyboard-Pomp und blechernem Schlagzeug-Computer verspielt das immer mal wieder öffentlich streitende Brüderpaar beinahe seine Reputation. Als Anspieltipp taugt immerhin ›Blues From A Gun‹. Erneut auf hohem Niveau, allerdings unter stilistisch veränderten Vorzeichen, präsentiert sich das Reid-Duo 1992 mit HONEY’S DEAD, einer sarkastischen Anspielung auf den eigenen Klassiker ›Just Like Honey‹. Wegen der kontroversen Zeile „I want to die just like JFK… I want to die just like Jesus Christ“ bannt die BBC-TV-Show Top Of The Pops die Singleauskopplung ›Reverence‹.

Ursprünglich als reines Akustikkonzept, aber wieder im Bandkontext mit Multiinstrumentalist Ben Lurie und Schlagzeuger Steve Monti angedacht, zeigt sich STONED & DETHRONED zwei Jahre später. Doch nach monatelanger Tüftelei schleichen sich dann doch E-Gitarren ins luftige Pop-Konzept, wenn auch ohne Rückkopplungsgeheul. Als Gäste fungieren Shane MacGowan von The Pogues (›God Help Me‹) und Hope Sandoval (›Sometimes Always‹). Mit dem finalen MUNKI verabschieden sich die zerstrittenen Brüder 1998 mit einem zwar nicht spektakulären, aber doch überdurchschnittlichen Werk – allerdings getrennt voneinander eingespielt. Reichlich zermürbt von den Mechanismen des Musikgeschäfts zeigt sich William Reid in ›Commercial‹, ›Cracking Up‹ und ›I Hate Rock’n’Roll‹. Gelöster agiert Bruder Jim im Gegenstück ›I Love Rock’n’Roll‹ und der Hommage an VU-Schlagzeug-Ikone ›Mo Tucker‹. Komplettiert wird die elfteilige Kollektion durch die Doppel-LP THE BBC SESSIONS, die Konzertaufzeichnung LIVE IN CONCERT und einer von der Fangemeinde ausgesuchten Scheibe mit B-Seiten und Raritäten.

9

Marillion
SOUNDS THAT CAN’T BE MADE
Ear Music/Edel

Es gibt eben nichts, was es nicht gibt: von unsichtbarer Tinte, glücklichem Mensch und dem Himmel über dem Regen.

Nicht kleckern, sondern klotzen! Mit einem wahren Tornado von Song-Suite samt kontroverser Botschaft eröffnet die britische Progressiv-Rock-Institution ihr 17. Studiowerk: ›Gaza‹, ein mit reichlich Finesse inszeniertes Stück Musik von knapp 18 Minuten mit diversen Tempo- und Stimmungswechseln, nimmt sich jene Kinder zum Thema, die im gleichnamigen Landstrich in Palästina aufwachsen müssen. In der Betrachtung textlich zwangsläufig etwas einseitig geraten, aber nichtsdestotrotz ein eindrucksvolles und mit jeder Menge Überraschungen gespicktes Klangerlebnis. Wie sich eigentlich sämtliche acht Songs des mit knapp 75 Minuten Spielzeit gesegneten Doppelalbums über den Durchschnitt erheben. Gleich zwei weitere Eckpfeiler des mit aufklappbarem Cover von Simon Ward ausgestatteten Werks weisen Überlänge auf: ›Montréal‹ schlägt immerhin mit 14 Minuten zu Buche, ›The Sky Above The Rain‹ kommt auf knapp elf Minuten. Also sicherlich ganz nach dem Geschmack der weltweiten Fangemeinde, die seit dem Platindebüt SCRIPT FOR A JESTER’S TEAR von 1983 der Formation die Treue hält und es auch sechs Jahre später ohne Murren hinnahm, dass der doch etwas selbstverliebte Peter-Gabriel-Klon Fish sein Mikrofon an Steve Hogarth übergab. Schlicht in klassischer Marillion-Manier tönt der Titelsong. Melancholisch Verträumtes für die Zeit zwischen Mitternacht und frühem Morgen liefern schließlich ›Pour My Love‹, ›Invisible Ink‹ und ›Lucky Man‹.

7

Bob Marley & The Wailers
BEST OF THE UPSETTERS SINGLES 1970-72
Cleopatra

Essenzieller Stoff: auf dem Weg zum internationalen Durchbruch.

Allgegenwärtig ist das Erbe des 1981 verstorbenen Bob Marley: Als erster Rock-Superstar der Dritten Welt verinnerlichte er sich unsterblich im kollektiven Popbewusstsein und machte den Reggae international hoffähig. Doch bevor Chris Blackwell, seinerzeit Chef des damals größten britischen Indie-Labels Island, den kämpferischen Weltverbesserer mit eigens in London neu abgemischten Meilensteinen wie CATCH A FIRE, BURNIN’, NATTY DREAD und RASTAMAN VIBRATION den westlichen Musikkonsumenten schmackhaft machte, konnte die noch mit Peter Tosh und Neville „Bunny Wailer“ Livingstone sowie Aston „Family Man“ Barrett und dessen Bruder Carlton besetzten Wailers schon auf reichlich Veröffentlichungen im jamaikanischen Heimatland zurückblicken. BEST OF THE UPSETTERS SINGLES 1970-72 kompiliert in detailgetreuer Ausstattung im ursprünglichen Coverdesign und ausführlichem Booklet sieben Vinyl-Single-Originale, die Bob Marley & The Wailers damals mit der heute noch aktiven Produzentenlegende Lee „Scratch“ Perry einspielten: Nach dem Durchbruch der Wailers 1973 galten die 45er ›My Cup‹/›Duppy Conqueror‹, ›Mr. Brown‹/›Dracula‹, ›Man To Man‹/›Necoteen‹, ›Kaya‹/›Kaya Version‹, ›Small Axe‹/›All In One‹, ›More Axe‹/›The Axe Man‹ und ›Keep On Moving‹/›African Herbsman‹ als Vernachlässigbares aus der Vorerfolgsphase. Schlicht unfassbar! Verkörpert doch ausgerechnet jenes Material auf ursprüngliche Weise die Essenz des noch jungen Reggae-Genres, bevor Blackwells Studiomusiker Hand anlegten und den Sound auf westliche Hörgewohnheiten trimmten. Jedenfalls klangen The Wailers nie authentischer als in jener Phase.

9

Nazareth
CLOSE ENOUGH FOR ROCK AND ROLL/PLAY’N’THE GAME/EXPECT NO MERCY /NO MEAN CITY
Music On Vinyl/Cargo

Nazareths Kreativschaffen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre.

Ausgerechnet mit Steh-Blues-Balladen wie ›Love Hurts‹ und ›Dream On‹ manifestierten sich Nazareth im kollektiven Rock-Langzeitgedächtnis. Dass das schottische Quartett auch reibungslos an der Schnittstelle zwischen Led Zeppelin, Uriah Heep und Deep Purple auf der einen, aber auch T. Rex, Slade und Sweet auf der anderen Seite funktionierte, demonstrieren vor allem die zehn Alben der 70er Jahre – die letzten vier liegen nun auf Vinyl vor: Kantig schroff kontern Vokalist Dan McCafferty, Gitarrist Manny Charlton, Bassist Pete Agnew und Schlagzeuger Darrell Sweet 1976 die Punk-Revolution: CLOSE ENOUGH FOR ROCK’N’ROLL stürmt mit der vierteiligen Suite ›Telegram‹, ›Vancouver Shakedown‹ und ›Born Under The Wrong Signs‹ die Barrikaden. Nicht minder auf die Tube drückt noch im gleichen Jahr PLAY’N’THE GAME, ein Blick zurück mit geschmackvoll interpretierten Covern von ›Wild Honey‹ (Beach Boys), ›I Want To (Do Everything For You)‹ (Joe Tex), ›Down Home Girl‹ (von Leiber/Butler, das einst schon die Stones interpretierten!), ›I Don’t Want To Go On Without You‹ (Bert Berns) sowie Selbstgestricktem mit reichlich Schmackes. Ebenfalls den Härtetest der Zeit bestanden hat EXPECT NO MERCY (’77): Jack Nitzsches Beitrag ›Gone Dead Train‹ für den Soundtrack des Kinoklassikers „Performance“ mixt sich mit herben Krachern aus eigener Züchtung und bedient sich auf der Hülle erstmals martialischer Fantasy-Art-Work. In verändertem Line-Up präsentieren sich Nazareth 1979 mit NO MEAN CITY – inspiriert von gleichnamiger Novelle der Glasgower Autoren Alexander McArthur und H. Kingsley Long: Gitarrist Zal Cleminson, ehemals Sensational Alex Harvey Band, liefert sich mit Mannie Charlton virtuose Duelle auf einem Album aus einem Guss.

CLOSE ENOUGH FOR ROCK AND ROLL:
7
PLAY’N’THE GAME:
7
EXPECT NO MERCY:
7
NO MEAN CITY:
7

The Ramones
IT’S ALIVE
Music On Vinyl/Cargo

Klebstoffschnüffeln, Elektroschocktherapie und Lobotomie unter Teenagern: Wir sind eine glückliche Familie!

Vier Alben zwischen April 1976 und September 1978 etablierten The Ramones als flexible Truppe der noch jungen Punk-Ära. Doch als Punks bezeichnete sich das New Yorker Quartett eigentlich nicht: „We thought we were a bubblegum band… there was no punk movement“, beschreibt Sänger Joey Ramone die Produktion des Debüts THE RAMONES. Die seinerzeit mit Gitarrist Johnny Ramone, Bassist Dee Dee Ramone und Schlagzeuger Tommy Ramone komplettierte Band hatte sich wohl oder übel damit abgefunden, Speerspitze einer Bewegung zu sein, als im April 1979 der erste Konzertmitschnitt der rasanten Truppe vorlag. DasDoppel-Vinyl-Set IT’S ALIVE, benannt nach einem ekligen Horrorstreifen von 1974, bediente sich einer Aufzeichnung vom 31. Dezember 1977 im Londoner Rainbow Theatre. Die Ramones ließen vier komplette Konzerte mitschneiden, doch die Londoner Show stach heraus, weil die Fangemeinde die Sitze aus den ersten zehn Reihen herausgerissen und auf die Bühne geworfen hatte. Kraftvoll dynamisch haken Joey, Dee Dee, Johnny und Tommy in rascher Folge 28 Songs aus den ersten drei Alben ab – eine Tour de Force vom ersten Takt von ›Rockaway Beach‹ bis zum Schlussakkord von ›We’re A Happy Family‹. Mit dabei war alles, was Anhängern der Band heutzutage noch lieb und teuer ist: von ›Blitzkrieg Bop‹ über ›Sheena Is A Punk Rocker‹ und ›Suzy Is A Headbanger‹ bis hin zu ›Judy Is A Punk‹. Manisch runter geholzt auf oft unter zwei Minuten Laufzeit, als stünde am Bühnenrand der Sportlehrer vom College mit der Stoppuhr in der Hand. Geschmack bewiesen The Ramones auch bei den Coverversionen: ›Surfin’ Bird‹ von The Trashmen, ›California Sun‹ von The Rivieras, Bobby Freemans ›Do You Wanna Dance?‹ und ›Let’s Dance‹ von Chris Montez profitieren ebenso vom permanenten Hochdruck wie die dann doch sehr deftigen Punk-Nummern ›Gimme Gimme Shock Treatment‹, ›Teenage Lobotomy‹ und ›Now I Wanna Sniff Some Glue‹.

7

WolveSpirit
DREAMCATCHER
Spirit Stone Records

Klassisch Hartmetallisches aus Würzburg.

SPIRIT METAL lautete vor knapp zwei Jahren das Debütalbum der Formation aus Würzburg – eine auf zeitlos getrimmte Überblendung diverser Stilelemente mit tiefer Verwurzelung in der Rockkultur der 60er und 70er Jahre. DREAMCATCHER, in Nashville gemixt von Michael Wagener (u.a. Ozzy Osbourne, Metallica, Lordi), knüpft nahtlos an mit seinen an drei verschiedenen Örtlichkeiten aufgezeichneten zehn Songs: mörderischer Gitarren-Riff-Rock zwischen hartmetallisch Voluminösem und progressiv Experimentellem. Angestachelt durch satte Hammondorgeleinlagen, eine enorm druckvolle Rhythmus-sektion und die stets präsente Röhre von Vokalistin Debbie Koye. Vergleiche mit allerlei Hochkarätigem aus der Vergangenheit zu bemühen, ersparen wir uns lieber – es gäbe nämlich einige zu ziehen. Doch das Rad lässt sich schließlich auch nicht mehr jeden Tag neu erfinden.

WolveSpirit lassen auf jeden Fall viel Liebe zum Detail und spirituelle Hingabe an ihr Werk erkennen. Völlig gleich, ob sie zum ›Space-trippin’‹ aufrufen, die ›Gypsy Queen‹ beschwören oder jenen angeblich unter uns weilenden Wesen huldigen, die von sich behaupten: ›From Venus I Came‹. Im Textinhalt deutlich von Carlos Castanedas skurriler Weltsicht geprägt sind die Stimmungsbilder ›Raven‹, ›Dreamcatcher‹ und ›Holy Smoke‹. Mit höchst ehrenwerter Pfadfindergesinnung im Herzen (jeden Tag mindestens eine gute Tat!) rufen WolveSpirit ›Wake Up‹, das in seiner Botschaft nichts Geringeres verlangt, als dass das tägliche Morden unseres Heimatplaneten bitteschön ein Ende haben möge. Ein Extrapunkt geht an das psychedelische Artwork und das transparente gelbe Vinyl dieser Ausgabe.

7

» Zusammengestellt von Michael Köhler

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