Neues Projekt mit namhaftem Chef: Simon Collins ist der Sohn von Phil Collins und präsentiert seine erste richtige Band.
Die Diskussion darüber, wie progressiv, sprich: fortschrittlich so genannter Progressive Rock tatsächlich ist, muss man wohl nicht mehr führen. Ihrem Namen wurde diese Stilrichtung sicherlich nur sehr kurz gerecht, damals Anfang der Siebziger, als Bands wie King Crimson, Emerson Lake & Palmer und Pink Floyd der Rockmusik völlig neue Elemente hinzufügten. Alles, was danach kam und sich ähnlicher Stilmittel bediente, war nicht mehr progressiv. Deshalb installierten besonders schlaue Zeitzeugen einen Alternativbegriff für Musik, die Rock mit Klassik und/oder wahlweise Blues oder Jazz kombiniert: Art Rock, auf Deutsch so viel wie Kunstrock. Sound Of Contact zelebrieren auf ihrem Debütalbum DIMENSIONAUT genau diesen Art Rock, wie er über Jahrzehnte von Genesis, Yes, später Rush, Saga und Marillion, heute von Porcupine Tree und Spock’s Beard etabliert wurde. So weit, so unspektakulär. Farbe kommt bei dieser neuen Band erst ins Spiel, wenn man sich ihre Köpfe anschaut. Einer der zwei maßbeglich Federführenden heißt Dave Kerzner, spielt Keyboards und ist im täglichen Geschäftsleben Chef der Firma Sonic Reality Inc. Eigentlich noch kein Grund, wirklich feuchte Hände zu bekommen. Der zweite Macher von Sound Of Contact jedoch heißt Simon Collins und ist – Achtung! – der älteste Sohn von Superstar Phil Collins. Oha, da schaut jetzt natürlich die ganze (Art Rock-) Welt hin!
ZUHAUSE BEI DEN COLLINS
Erfolgreiche Väter hinterlassen ihren Nachkommen oft ein schweres Erbe, einen übergroßen Schatten, aus dem sich so mancher Filius kaum befreien kann. Für Simon Collins gilt dies scheinbar nicht: „Ich hatte eine tolle Kindheit und konnte jeden Tag genießen“, erklärt er rückblickend. Häufig nahm ihn sein berühmter Vater mit auf Tournee. Sohn Simon durfte also überall dabei sein, wo es abends hell und aufregend und laut wurde. „Genesis waren meine zweite Familie“, erklärt Collins Junior, der im September 1976 in London geboren wurde, „alle waren total nett zu mir und hatten immer ein Auge darauf, dass es mir gutgeht.“ Für Sohn Simon war also stets gut gesorgt, für seine Mutter und Collins-Ehefrau Andrea Bertorelli dagegen weniger. Als Simon noch nicht einmal fünf Jahre alt war, trennten sich seine Eltern: Mutter Andrea hatte die Nase voll von einem Ehemann, der so gut wie nie zuhause, sondern ununterbrochen auf Tournee war. Bertorelli zog Anfang der Achtziger mit ihrem Sohn nach Kanada, Vater Phil blieb in Europa. Für Simon blieb das Leben dennoch unbeschwert: „Meine Mutter kaufte mir schon mit sechs ein eigenes Schlagzeug, auf dem ich den ganzen Tag herumtrommeln konnte. Es stand bei uns auf dem Dachboden, alle meine Freunde durften ständig zu Besuch kommen und mit mir musizieren. Wir spielten von Death Metal bis Hip Hop alles, was man sich vorstellen kann.“ Mit elf bekam Simon erste Klavierstunden, später auch Unterricht an der Gitarre. „Ich saugte alles auf, was ich an Musik entdecken konnte, Pink Floyd, Prince, Dire Straits, Robert Plant, vor allem aber natürlich Genesis. Das Live-Album SECONDS OUT konnte ich irgendwann vom ersten bis zum letzten Ton mitspielen.“ Eigentlich gab es nie Zweifel daran, dass auch Simon Collins irgendwann seinen Lebensunterhalt mit Musik verdienen wird.
DAVE KERZNER – FAN VON TONY BANKS
Collins‘ wichtigster Partner in seiner neuen Band Sound Of Contact heißt Dave Kerzner und wuchs in Hollywood auf. Im Gegensatz zu seinem Kollegen war Kerzner nicht von einer rundum musikalischen Gesellschaft umgeben. „Allerdings hatte mein älterer Bruder viele Kontakte zu Musikern, einer seiner besten Freunde war Adam Gaynor, der Gitarrist von Matchbox 20, insofern wusste ich schon früh, was abgeht.“ Mit 13 entdeckte Kerzner den Genesis-Keyboarder Tony Banks im Videoclip zu ›Turn It On Again‹ und war sofort angefixt. „Ich sah ihn spielen, ich hörte den Sound und war total gefesselt. Ich hatte bis dahin schwerpunktmäßig Klavier gespielt, die Möglichkeiten moderner Synthesizer faszinierten mich.“ Ein Jahr später hatte Kerzner seine Mutter überredet, ihm einen Moog-Synthie zu kaufen, allerdings war diese Erfahrung zunächst ziemlich ernüchternd. „Nach dem Genesis-Video war ich der Meinung gewesen, all die unterschiedlichen Sounds wären allesamt einem einzigen Synthesizer entsprungen. Nun merkte ich, dass dies nicht der Fall war und man – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – ganz unterschiedliche Synthies benötigte, um die ganze Bandbreite möglicher Klänge abrufen zu können.“
In den folgenden Jahren forcierte Kerzner nicht nur seine Karriere als Musiker, sondern etablierte sich auch als innovativer Entwickler moderner Keyboard-Sounds. 1996 gründete Kerzner die Firma Sonic Reality Inc., die sich auf neue Sounds und auf eine riesige Bibliothek mit Klangsamples unterschiedlichster Instrumente spezialisierte. Im Laufe der Zeit arbeitete er unter anderem für Madonna, Smashing Pumpkins, Tom Waits und Ringo Starr. „Das Beste aber“, sagt er mit sichtlichem Stolz, „das Beste ist, dass heute Tony Banks die Sounds verwendet, die ich entwickelt habe. Der Kreis schließt sich also: 1981 war Banks derjenige, der mich mit seinem Keyboardspiel auf den Weg gebracht hat, und heute sind es meine Sounds, von denen er profitiert. Das macht mich total glücklich.“
SOLOSCHEIBEN
Simon Collins veröffentlichte 2000 sein Solodebüt ALL OF WHO YOU ARE, mit der Singleauskopplung ›Pride‹ – übrigens mit Vater Phil als Gastsänger –, die in vielen Ländern die Charts hochsauste. „Aus heutiger Sicht entdecke ich auf dem Album natürlich noch die eine oder andere Schwäche“, gesteht Collins, „andererseits lebt das Album auch von seiner Unbekümmertheit, die man nur haben kann, wenn man noch etwas unbedarft ist.“
Etwas reifer zeigte sich der junge Brite fünf Jahre später, als sein zweites Solowerk TIME FOR TRUTH in die Läden kam. Das Album hatte eine entscheidende Änderung gegenüber seinem Vorgänger: Collins verlagerte den Schwerpunkt stärker in traditionelle Rock-Instrumentierungen und verpflichtete mit Kelly Nordstrom einen Gitarristen. Künstlerisch sieht Collins die Scheibe als Schritt in die richtige Richtung, kommerziell blieb sie dagegen hinter den Erwartungen zurück. „Auf ALL OF WHO YOU ARE war vieles noch künstlich erzeugt, nicht einmal die Schlagzeug-Parts waren real, sondern programmiert. Insofern ging TIME FOR TRUTH einen wichtigen Schritt weiter, indem mehr und mehr organische Instrumente zum Einsatz kamen.“
2006 trafen sich Collins und Kerzner erstmals persönlich. Beide waren in New York in die Proben von Genesis involviert und freundeten sich auf Anhieb miteinander an. „Es gibt so etwas wie Seelenverwandtschaft“, behauptet Kerzner, „man sieht sich zum ersten Mal, man unterhält sich und hat das Gefühl, dass man sich schon seit vielen Jahren kennt.“ Ihr erstes gemeinsames Projekt war eine Neufassung des Genesis-Songs ›Keep It Dark‹, die beim Abschlusskonzert von Genesis im Hollywood Bowl in Los Angeles als Pausenmusik vorgestellt wurde. Klar war schon sehr früh: Collins, Kerzner und Gitarrist Kelly Nordstrom funken auf gleicher Wellenlänge.
Die Besetzung für Collins’ dritte Soloscheibe U-CATASTROPHE (2008) war damit gefunden. Zudem nutzte Collins seine familiären Kontakte und lotste Vater Phil und Genesis-Gitarrist Steve Hackett als Gäste zu den Aufnahmen. „Ich musste nicht lange bitten, sondern nur andeuten, dass wir uns sehr über einen Besuch im Studio freuen würden. Mein Dad und Steve sagten sofort zu.“
SOUND OF CONTACT
Mit der Tournee zu U-CATASTROPHE kristallisierte sich auch der Wunsch noch deutlicher heraus, beim nächsten Mal wirklich als Band zu fungieren. „Es ist einfach ein völlig anderes Gefühl, wenn man im Team arbeitet“, weiß Collins seit der Gründung von Sound Of Contact, „auch wenn man Kompromisse machen und eigene Ideen ständig hinterfragen lassen muss. Aber den kreativen Prozess mit Anderen zu teilen ist eine unglaublich bereichernde Erfahrung.“ Das Debüt der neuformierten Gruppe heißt DIMENSIONAUT und erzählt die fiktive Geschichte eines Zeit- und Raumreisenden, der die Grenzen menschlicher Erfahrungen zu vergrößern sucht. Musikalisch findet man hier alles das, was die internationale Art Rock-Szene seit den Siebzigern geprägt hat: wunderbare Melodien, komplexe Rhythmik, große Sounds und immer wieder Querverweise auch an andere Musiksparten. „Wahre Magie kommt nur aus dem Zusammenspiel menschlicher Wesen“, sind sich Kerzner und Collins einig. „Wenn man sich heutzutage beispielsweise die legendären Scheiben von Led Zeppelin in den frühen Siebzigern anhört, wird deutlich: Sie sind weder handwerklich noch klanglich perfekt, aber sie verströmen ein unglaubliches Flair und eine unbeschreibliche Energie. Das ist es, was den wahren Rock‘n‘Roll auszeichnet: Energie und die Freiheit, genau das zu spielen, was einem das Gefühl sagt.“
Vor allem für Simon Collins bedeuten die ersten Erfahrungen mit Sound Of Contact, sein gesamtes bisheriges Künstlerleben noch einmal bewusst zu hinterfragen. „Ich habe in den zurückliegenden drei Jahren sehr viel über mich und meinen Beruf gelernt“, sagt er, „und ich habe verstanden, dass es für einen Musiker nur ein Ziel geben kann: nämlich künstlerisch zu wachsen. Man muss sich selbst immer wieder neuen Herausforderungen stellen, sich mit Anderen austauschen und auch notfalls kritisch auseinandersetzen, nur dann ist Entwicklung möglich. Natürlich sollte man nie vergessen, woher man kommt. Aber das darf nicht alles sein, was zählt. Wichtig sind Weiterentwicklung und Fortschritt.“ Sound Of Contact bietet ihm all dieses, obwohl Collins damit nicht automatisch seine Solokarriere für beendet erklärt: „Ich habe noch nie bereut, was ich als Solomusiker in den zurückliegenden zehn Jahren erschaffen habe. Aber jetzt ist für mich der Zeitpunkt gekommen, Spaß an einem gemeinschaftlichen Projekt zu haben und mich beim Songwriting und im Studio mit Kollegen auszutauschen.“ Klingt nach einer langfristig angelegten Liaison.