Es ist Zeit, die Lorbeeren zu ernten: Steve Hackett, zwischen 1971 und 1977 Gitarrist der Prog-Größen Genesis und späterer Mitbegründer der kurzlebigen Supergroup GTR, ist gerade aus New York zurück. Dort wurden er und seine Genesis-Kollegen in die „Rock and Rock Hall Of Fame” aufgenommen. Doch ausruhen will sich der einflussreiche Instrumentalist auf seinem Siebziger-Ruhm nicht – er verarbeitet lieber aktuelle private Widrigkeiten, und zwar auf seinem Soloalbum OUT OF THE TUNNEL’S MOUTH.
Der „Rock and Rock Hall Of Fame”-Laudator Trey Anastasio von Phish bezeichnete Genesis in seiner Rede als „rebellisch, ruhelos und immer nach Neuem strebend“. Damit kann er nur die Ära bis 1977 gemeint haben…
Danke, das nehme ich als Kompliment. Ich mag Musik, die sich ändert, die mich überrascht. Das gab’s schon in den Sechzigern, bei den Yardbirds, auch im Blues sind unerwartete Wendungen nichts Ungewöhnliches. Ich glaube, unser Progressive Rock war ein Destillat dieser Tendenzen. Wir haben das zum Konzept gemacht: Es ist wie ein Film, nur für die Ohren statt für die Augen. Deshalb ist auch der „Dance“ der einzige Musikstil, mit dem ich Schwierigkeiten habe, mit seiner „Four-To-The-Floor”-Bassdrum. Allerdings ist das ja nur der heutige Zustand der Tanzmusik – früher war das mal besser. Die GAVOTTE von Bach war ja auch zum Tanzen gedacht, nur eben für Tänzer des Barock.
Muss ein Rock-Gitarrist Kenntnisse in klassischer Musik haben?
Für mich war diese Kenntnis entscheidend. Zu Übungszwecken. Ich wurde von meinen Eltern nie zu klassischer Musik gezwungen, sondern habe es immer nur freiwillig gehört. Schließlich lieh mir jemand SEGOVIA PLAYS BACH aus, wo André Segovia einige Sui-ten auf der Gitarre nachspielt. Das war für mich, der ich vorher nur Bluesstücke geklimpert hatte, einfach unglaublich. Diese Intimität, diese Effizienz!
Es war allerdings religiöse Musik…
Da bin ich mir nicht mehr so sicher. In Bachs Leben war das Religiöse vielleicht eher ein Versteck, im Grunde also nicht so wichtig. Für mich ist er auch romantisch und persönlich, nicht nur der ent-rückte „El Supremo Barocko“. Seine „Chaconnes“ soll er weniger für Gott als für seine erste Frau geschrieben haben.
Das aktuelle Steve Hackett-Album OUT OF THE TUNNEL’S MOUTH ist auch sehr persönlich gefärbt. Fertig wurde es bereits vergangenem Oktober, regulär veröffentlicht wird es erst jetzt. Warum?
Das hat auch mit einer Frau zu tun. Nämlich mit meiner Ex-Frau, die mit meinem Ex-Manager ein Verhältnis hat. Daraus resultieren viele Rechtsprobleme, ausgehend von den Verträgen, die ich abgeschlossen habe. Ich muss um jede meiner Veröffentlichung vor Gericht kämpfen.
Das klingt ja nach einer infernalischen Situation!
Infernalisch, ja, das ist ein Adjektiv, dass meine Lage sehr gut beschreibt. Das Album hat denn auch nicht zuletzt damit zu tun, dass mich diese Leute davon abhalten wollen, es zu veröffentlichen. Deshalb ist es so stark. Verzeihung, aber ich halte es für mein bisher bestes Rockalbum.
Es gibt die alte These, echte Kunst resultiere immer aus echten Problemen. Stimmt das?
Ich könnte darauf jetzt religiös antworten, aber ich sag’s mal so: Ohne diesen Kampf gegen die beiden hätte ich mich selbst nie so sehr verändert, wie es nun geschehen ist. Ich bin eigentlich jemand, der immer den Weg des geringsten Widerstandes sucht. Um mit der aktuellen Lage umgehen zu können, war ich gezwungen, mich zu ändern.
Das verstehe ich jetzt nicht ganz. Wieso denn bitte?
Nun, mit einem Spiel.
Einem Spiel?
Ja. Es fast schon unheimlich und geht so: Such dir drei Tiere aus, einfach so. Ich dachte an einen Hirsch, ein Eichhörnchen und einen Adler. Der Clou ist: Das erste Tier verrät, wie du dich selbst siehst. Das zweite Tier steht dafür, wie andere dich sehen. Und das dritte Tier symbolisiert, was du gerne sein willst. Also: Der Hirsch kämpft nur, wenn er dazu gedrängt wird. Das Eichhörnchen ist zahm, will einfach nur Erdnüsse essen. Aber der Adler repräsentiert maximale Mobilität bei minimaler Anstrengung. Er ist ein ökonomischer Jäger, Moral spielt für ihn keine Rolle. Es geht um absolute Präzision. Und niemand legt sich mit einem Adler an. Dieses Spiel ergibt also eigentlich ein individuelles Psycho-Profil und kann helfen, Dinge auf die Reihe zu bekommen. Ich kann es nur sehr empfehlen.
Ist Musik dabei eine Therapie?
Therapie, Psychologie, Katharsis, ja. Jeder Song, an dem ich gerade arbeite, ist für mich so etwas wie eine Rettungsleine. Spontane Perfomance ist mir dabei weniger wichtig als die Planung der Details. Im Kleinen zeigt sich die Größe einer Komposition. Auch andere Gitarristen arbeiten ähnlich, Brian May von Queen oder Steve Howe von Yes. Im Jazz mag das anders sein, aber klassische Musik verzeiht nichts. Blues kann und soll wild und zügellos sein, taugt aber nur etwas im Rahmen einer strengen Form. Da sind wir wieder bei der Klassik. Klassische Musik erzieht dich zu militärischer Disziplin.
Es gibt heute viele Bands, die mit solcher Präzision die Musik von Genesis oder Pink Floyd nachspielen…
Oh, ich liebe Tribute-Bands! Vor allem, weil sie meine Meinung bestätigen, dass der Progressive Rock dabei ist, zur klassischen Musik unserer Zeit zu werden. Ich bin vor 40 Jahren bei Genesis eingestiegen, und die Stücken werden heute noch gespielt! Es ist fast wie mit Glenn Miller. Oder wie mit alten Folk-Melodien vielleicht, wer weiß? Und wer weiß, was in wiederum 40 Jahren sein wird? Vielleicht ist es genau das, was wir meinen, wenn wir von „klassischem Rock“ spre-chen: ein Kanon, in dem sich allmählich herausbildet, was Bestand haben wird und was nicht.
Was wird denn Bestand haben?
Schwer zu sagen. Ich weiß ja nicht einmal, wie die Sache mit dem Progrock ausgehen wird. Ich interessiere mich für alte und neue Musik. Besonders reizt es mich, die alten Farben und Formen mit kraftvollen Gitarren zu kombinieren. Manchmal hat die elektrische Gitarre eine fast holzhafte Wirkung, wie eine Violine!
Jimmy Page malträtierte seine Gitarre gern mit einem Bogen…
Ja, und ich habe das auch manchmal gemacht! (lacht) Allerdings nur, weil die Gitarre dann klingt wie ein vorbeirauschender Güterzug!
Und was ist mit elektronischer Musik?
Mag ich! Ich glaube, jede Form von Rock ist eigentlich moderne, elektronische Musik. Ich unterscheide nicht so sehr zwischen Penderecki, Messiaen oder den Dingen, die Pete Townshend von The Who in den frühen Siebzigern mit dem Synthesizer angestellt hat. Was mich berührt, ist die Kombination aus Wucht und Präzision, egal in welchem Genre. Ich mag auch, wenn alles entgleist – diesen Kontrollverlust, der natürlich Kontrolle voraussetzt, die da verloren gehen kann.
Gerüchten zufolge wird es bald ein gemeinsames Album von Steve Hackett und Chris Squire geben, dem Bassisten von Yes. Es das wahr?
Ja, so ist es, wir sind gerade dabei. Aber es gibt keine Plattenfirma im Rücken, wir machen das zu Hause. Warum? Weil’s Spaß macht. Da geht es nicht um Verkäuflichkeit. Eines ist übrigens lustig: Wenn man mit Chris Songs schreibt, denn sie werden einfach immer länger und länger…
Im Hause Hackett steht bald ein runder Geburtstag an, der 60. – ist das Alter ein Thema?
Absolut. Gerade hatte ich mehrere Operation, rein gesundheitlich geht es jetzt besser. Neben den physischen Einschränkungen gibt es aber auch einen psychischen Gewinn: Man beginnt, sich fruchtbar mit der eigenen Sterblichkeit zu beschäftigen, und stellt fest, was wichtig ist und was nicht.
Welche anderen Siebziger-Dinosaurier neben Genesis haben denn einen bleibenden Eindruck hinterlassen?
Ich erinnere mich zum Beispiel gerne an Keith Emerson, damals noch bei The Nice. Ich mochte seine Technik und war dabei, als er Leonard Bernsteins AMERICA im Hyde Park interpretierte. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war, als er in der Einführung und im Schlussteil das ITALIENISCHE KONZERT für Cembalo von – und da wären wir schon wieder bei ihm – Bach einfließen ließ.
King Crimson waren groß, auch wegen Greg Lake. Von ELP hätte ich mir insgesamt mehr Melodien gewünscht. Das Gegenteil waren da Pink Floyd, die spielten immer langsam, immer harmonisch, extrem atmosphärisch und hatten spektakuläre Shows. Von Yes mochte ich den Song ›Roundabout‹ sehr gerne und ›Fish Out Of Water‹. Und Chris Squires Soloalbum hat mich dazu inspiriert, auch eigene Wege zu gehen. Beeindruckend fand ich auch Lindisfarne und vor allem Van der Graaf Generator, die waren sehr mächtig und uns allen weit voraus. Was mich daran erinnert, dass ich mich mal wieder mit denen zusammensetzen muss.
Diese Epoche ging schließlich mit dem Punk zu Ende…
Ich weiß noch, dass ich mir dieses Album von den Sex Pistols gekauft habe. Ich fand es lustig, hielt es für einen guten Witz. Was ich daran wirklich mochte, war der Minimalismus. Und ich ahnte nicht, dass es das Ende unserer Welt bedeuten könnte. Aber dann wurde aus dem Witz eine Bewegung, und zwar eine nihilistische. Ignoranz entwickelte sich zur Tugend, die Pose zur Attitüde. Musste denn alles weggeworfen werden? Ich weiß, dass viele das für eine gesunde Entwicklung hielten. Doch ich finde: Das Kind wurde hier mit dem Bade ausgeschüttet. Punk war das Ende jeder Form von echter Kameradschaft im Musikgeschäft.
Arno Frank