Ian Anderson ging es immer nur um die Musik. Obwohl der heute 67-jährige Brite seit über 45 Jahren als Kopf der so ungemein vielschichtigen Rock-Institution Jethro Tull und als Solokünstler ohne Scheuklappen von Erfolg zu Erfolg eilt, ist ihm das Rockstar-Dasein immer genauso zuwider gewesen wie die Oberflächlichkeit der Popmusik. Dass er auf seinem neuen Solowerk HOMO ERRATICUS nicht nur musikalisch äußerst ambitioniert zu Werke geht, sondern auch gleich noch 7000 Jahre britischer Geschichte aufrollt, überrascht da wenig.
Ein klassisches Interview findet bei unserem Treffen mit Ian Anderson im Kölner Hilton Hotel nicht statt. Am Ende von zwei langen Tagen mit im Halbstundentakt wechselnden Pressevertretern hat der von jeher als dominanter Gesprächspartner bekannte Jethro-Tull-Vordenker alles gesagt. Gegenüber CLASSIC ROCK beschränkt er sich darauf, über die Dinge zu monologisieren, die er auch in den Liner Notes zu HOMO ERRATICUS bereits thematisiert hat, oder er schwadroniert über seine Enkel oder die Reaktionen der westlichen Welt auf die Krim-Krise, die in dem Satz „Ich habe das Gefühl, dass Obama keine allzu große Leuchte ist“ kulminiert. Gezielte Fragen sind praktisch unmöglich, und die Versuche, ihn zumindest hier und da in seinem Redeschwall zu zähmen und ihn mit Einwürfen in eine andere Richtung zu lenken, werden mehr als einmal einfach übergangen oder mit einem strengen Oberlehrerblick über den Brillenrand getadelt.
Das ist natürlich nur allzu verständlich, schließlich haben wir es hier mit einem Musiker zu tun, der in 45 Jahren gelernt hat, die Medien für seine Zwecke zu nutzen. Seitdem er 1969 erstmals einen ganzen Tag damit verbracht hat, ausschließlich über sich und seine Musik zu reden, weiß er, wie der Hase läuft. Doch bei aller Routine: Vor der Aufgabe, die ihn am Tag nach seiner Rückkehr aus Köln erwartet, hat er dennoch ein bisschen Bammel. „Ich muss morgen eine ganze Reihe von kurzen Interviews fürs Radio geben“, verrät er. „Für gewöhnlich läuft das so, dass jemand für dich die Anrufe erledigt und du im Zehn-Minuten-Takt live bei irgendwelchen morgendlichen Radiosendungen in den USA zugeschaltet wirst, die in der Regel von ach so witzigen Moderatoren vom Schlage eines Howard Stern moderiert werden. Das Schwierige dabei ist, dass sich ein Gespräch nahtlos an das nächste anschließt und du nur sehr wenig Zeit hast, dich auf ein Gegenüber einzustellen, das du nicht sehen kannst. Ich muss also sehr auf der Hut sein – und dabei freundlich bleiben. Inzwischen habe ich den Bogen raus, aber das Ganze ist dennoch sehr ermüdend. Am Ende muss ich ein Aspirin einwerfen, einen warmen Kakao trinken und mich erst mal hinlegen, weil ich so erschöpft bin!“
Dennoch akzeptiert Anderson, dass Trommeln zum Handwerk gehört. In manch anderer Hinsicht hat er dagegen nicht dem Gruppendruck nachgegeben. Während sich viele andere Musiker seiner Generation in den 60ern und 70ern kopfüber in Sex, Drugs und Rock’n’Roll stürzten, war Anderson nie jemand, der viel um die Häuser gezogen ist, auch wenn ihn das nicht immer besonders beliebt bei seinen Kollegen gemacht hat. „Ich bin nicht einfach weniger als andere um die Häuser gezogen, ich habe das überhaupt nicht gemacht“, stellt er lachend klar. „Ich habe auch nicht weniger Drogen genommen, sondern überhaupt keine! Aber natürlich hast du Recht: Es ist einigen meiner Musikerkollegen sauer aufgestoßen, dass ich nicht mit ihnen um die Wette saufen wollte und nicht an all den anderen üblichen Lifestyle-Aktivitäten teilnahm. Das war einfach nicht das, was mich interessierte. Ich wollte lieber früh ins Bett und ein gutes Buch lesen oder die ‚Dick Cavett Show‘ oder ‚Johnny Carson‘ gucken.“ Eine plausible Erklärung dafür hat er auch gleich noch parat: „Wir standen damals jeden Abend zwei Stunden vor Tausenden von Menschen auf der Bühne. Das ist eine Menge Gesellschaft! Danach wollte ich einfach nur noch allein sein.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert, mal abgesehen davon, dass Anderson heute auf seinen US-Tourneen von seiner Frau begleitet wird, die für die Finanzen seiner Auftritte in Übersee verantwortlich ist und auch den Mietwagen kutschiert. „Das bedeutet, dass wir vier Wochen lang praktisch 22 Stunden am Tag zusammen sind“, rechnet der Brite vor. „Nur wenn ich auf der Bühne stehe, sind wir getrennt. Das ist eine sehr intensive Erfahrung! Danach weißt du wirklich, was es heißt, verheiratet zu sein!“ Dennoch ist Anderson seit inzwischen fast 40 Jahren glücklich mit seiner Gattin. „Ja, genau gesagt sind es 38, unser Hochzeitstag liegt gerade eine Woche zurück“, verbessert er. „Das Beste daran ist, dass wir – wenngleich unbeabsichtigt – ein gutes Vorbild für unsere Kinder sind. Mein Sohn arbeitet ja mit mir, seitdem er die Universität abgeschlossen hat, und meine Tochter hat gerade eine Produktionsfirma mit einigen berühmten Schauspielern gegründet. Das heißt leider, dass sie nicht mit mir zusammenarbeiten wird, sondern mit ihrem Ehemann, der auch Schauspieler ist. Trotzdem freut es mich, dass sie gewissermaßen die Tradition eines Familienunternehmens fortsetzt. Der Gedanke, dass man als Familie auch zusammen arbeitet und sich nicht nur gemeinsam zum Essen hinsetzt und dann und wann gemeinsam in den Urlaub fährt, gefällt mir sehr. Das mag sehr altmodisch erscheinen, aber wenn es funktioniert, ist es großartig.“
Bei so viel Bodenständigkeit verwundert es nicht, dass Anderson den Beruf des Musikers schon früh als Langzeit-Perspektive betrachtete, während viele seiner Zeitgenossen nur zur Gitarre griffen, um einige wenige Jahre das gute, wilde Leben zu genießen und so den Eintritt in die Welt der Nine-to-five-Jobs hinauszuzögern. „Die Jazz- und Bluesmusiker, die ich in jungen Jahren verehrt habe, waren alle so alt wie mein Vater“, setzt er zu einer Erklärung an. „Ich bin also mit der Annahme aufgewachsen, dass Musik etwas ist, das du machst, bis du alt bist und stirbst. Als ich mich 1967 auf eine professionelle Musikerkarriere festlegte, war ich deshalb einigermaßen sicher, dass ich daran festhalten würde, bis ich 60 oder 70 Jahre alt sein würde. Musiker zu sein, ist eben eine Lebensaufgabe.“
Jethro Tull starteten in den späten 60ern in den Blues-Zirkeln von London, doch schon Anfang der 70er war nach den ersten von vielen Umbesetzungen aus der Band ein ambitioniertes Kollektiv geworden, das Jazz, Rock, Prog und sogar Klassik verband und in dem vollbärtigen, zottelhaarigen, Querflöte-spielenden Anderson einen immer etwas exzentrisch anmutenden Frontmann ge-funden hatte. Mit Alben wie AQUALUNG oder THICK AS A BRICK rannte die Band schnell offene Türen ein, und bald waren weltweite Arena-Tourneen für die Briten an der Tagesordnung. Auch musikalische Kurskorrekturen – zunächst, mit MINSTREL IN THE GALLERY (1975) in Richtung Folk, später auch in Richtung härterer Gefilde, etwa mit dem Grammy-prämierten CREST OF A KNAVE (1987) – taten der Popularität dabei überhaupt keinen Abbruch.
Kein Wunder also, dass Anderson in der Rückschau nicht wirklich etwas zu bereuen hat. Lediglich die Tatsache, dass ihn der Name Jethro Tull praktisch sein gesamtes Musikerleben lang begleitet hat, nagt inzwischen doch ziemlich an ihm. Der echte Jethro Tull war ein Pionier der Landwirtschaft, der mit der Erfindung der Drillmaschine sein Gewerbe im frühen 18. Jahrhundert revolutionierte. Heute kann man ihn noch nicht einmal mehr richtig googeln, weil alle Verweise auf Jethro Tull zur Band führen. „Ich fühle mich wirklich schrecklich dabei, wenn ich daran denke, jemandem die Identität gestohlen zu haben“, gibt Anderson unumwunden zu. „Ich habe den Namen einer Person der Historie genommen und ihn kommerziell ausgeschlachtet. Das ist nun wirklich nicht die feine Art! Meine Entschuldigung dafür ist, dass ich solch ein fauler Geschichtsstudent war, dass ich nicht wusste, wer Jethro Tull war, als ich der Band 1968 den Namen gab. Ich bereue wirklich, dass ich damals keinen Namen finden konnte, mit dem ich auch heute noch glücklich sein könnte. So stolz ich auch auf unser Gesamtwerk bin und die Band mit all den 28 Musikern, die über die Jahre in Jethro Tull gespielt haben, fühle ich mich doch sehr schuldig wegen des Identitätsdiebstahls, und es wird immer schlimmer, je älter ich werde. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, unter dem Namen in Zukunft noch einmal eine Platte zu veröffentlichen.“
Folglich erscheint Andersons neues Werk unter seinem eigenen Namen. Auf HOMO ERRATICUS (zu Deutsch: der Landstreicher) taucht er tief in die Geschichte seiner britischen Heimat ein, reist 7000 Jahre zurück nach Doggerland, der Landmasse, die vor dem Anstieg des Meeresspiegels Kontinentaleuropa und Großbritannien verband, streift das Zeitalter der Jäger und Sammler, den Alltag in der Eisenzeit, das aufkeimende Christentum, schlüpft in die Rolle eines Schuljungen im 17. Jahrhundert oder in die eines Eisenbahningenieurs in den 1840er-Jahren, thematisiert das Viktorianische Zeitalter, die Schrecken von zwei Weltkriegen und den Verlust des britischen Empires, um am Ende ein düsteres Zukunftsszenario zu malen, bei dem es nicht zuletzt um politisch heiße Eisen wie das Problem der Migration in einem immer stärker bevölkerten Europa geht.
Damit verfolgt Anderson zwei entgegengesetzte Ansätze, die ihn dennoch schon seit langem faszinieren: Einerseits sein Interesse an Geschichte und andererseits seine Liebe zu Science-Fiction, die ihn im Teenageralter nicht nur zu einem Fan der Kurzgeschichten der einschlägigen Autoren, sondern auch zu einem begeisterten Leser von Sci-Fi-Magazinen wie „If“ machte. Dabei beeindruckten ihn schon damals weniger die Storys von Monstern und anderen angsteinflößenden Dingen, sondern die cleveren Kommentare zur Gesellschaft der Zukunft. „Letztlich steckte die Idee dahinter, dass man etwas für die Gegenwart lernen kann, indem man sich vorstellt, wo die Reise in der Zukunft hingeht“, erklärt er. „Geschichte dagegen funktioniert ja andersherum. Man versucht, mit den Fehlern der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären.“
Für HOMO ERRATICUS bedient sich Anderson einmal mehr des bereits auf den beiden THICK AS A BRICK-Alben aufgetauchten Gerald Bostock, der, wenn man der umfangreichen Hintergrundstory glaubt, die Anderson zu seinem neuen Album verbreitet, auf der Suche nach neuen Herausforderungen in einer kleinen Bücherei im Südwesten von England auf ein unveröffentlichtes Manuskript des Hobby-Historikers Ernest T. Parritt (1865-1928) stieß und dessen Aufzeichnungen – entsprechend dramatisiert und mit metaphorischen Bezügen zur Gegenwart aufgebauscht – zu Songtexten umformte, die Anderson anschließend nur noch vertonen musste. „Gerald ist ein prima Hilfsmittel beim Schreiben“, erklärt Anderson die erneute „Zusammenarbeit“. „Als mein Alter Ego sagt er all die Dinge, die ich nie sagen würde. Er kann sogar Sachen sagen, an die ich nicht glaube, denn seine Sichtweise muss nicht unbedingt meine sein.“ Noch wichtiger ist ihm allerdings, dass er mit Bostock eine Figur erfunden hat, die schillernder und unterhaltsamer ist als er selbst. „Das ist letztlich das, was immer passiert, wenn du über Menschen schreibst“, ist er sicher. „Du erfindest Figuren und Szenarien, die unterhaltsam sind. Wenn du für Film oder Fernsehen schreibst oder Buchautor bist, wird das als vollkommen normal akzeptiert. Allen ist klar, dass die Personen dort nicht real sind. Aus irgendeinem Grunde ist das bei der Pop- und Rockmusik anders. Dort wird immer angenommen, dass der Sänger ausschließlich von sich selbst singt. Das liegt daran, dass die Popmusik ein sehr begrenztes Vokabular besitzt. Viel mehr als ‚Ich bin verliebt!‘ / ‚Ich bin nicht verliebt!‘ existiert dort leider nicht. Es ist allerdings schlichtweg eine Fehlannahme, dass es keine Ausnahmen von dieser Regel gibt.“
Doch nicht nur inhaltlich geht Anderson auf seinem neuen Album ambitioniert zu Werke, auch musikalisch scheut er sich nicht, die Erwartungen seines Publikums auszuhebeln, indem er dieses Mal – durchaus passend zu den ungeschönten Wahrheiten der Texte – unerwartet harte Töne anschlägt. Die Gründe dafür sind allerdings pragmatischer. „Ich habe vor ein, zwei Jahren des Öfteren gesagt, dass meine nächste Veröffentlichung ein Rock-Album sein wird, auf dem ich praktisch keine Akustikgitarre spiele. Nachdem ich das einige Male öffentlich geäußert hatte, fühlte ich mich verpflichtet, der Idee treu zu bleiben“, erklärt er. „Außerdem habe ich auch gesagt, dass ich noch mal ein Rock-Album machen will, bevor ich sterbe, und vielleicht ist mir das mit HOMO ERRATICUS nun gelungen.“ Ganz abgesehen davon gefällt ihm die Idee, dass die meisten Menschen bei einem Ian-Anderson-Solowerk ein esoterisch-akustisches Werk erwarten, aber dieses Mal etwas ganz anderes bekommen.
Obwohl in den kommenden Monaten nun zunächst eine ausgiebige Tournee ansteht, auf der Anderson HOMO ERRATICUS aufführen wird, bevor er sich im zweiten Teil der Aufritte den Hits von Jethro Tull widmen will, ist er in Gedanken schon damit beschäftigt, seine nächste Veröffentlichung zu planen: Ein Album, auf dem er die Klassiker von Jethro Tull singt, begleitet lediglich von einem Streichquartett. Die Hälfte der Arrangements steht bereits, der Rest soll in Bälde folgen. „Ich bin in den letzten Jahren des Öfteren mit Streichern aufgetreten und habe das immer sehr genossen“, verrät er den Ursprung der Idee. Viel Kalkül steckt allerdings nicht hinter der Idee, die Greatest Hits noch einmal neu einzuspielen. „Ich sehe das nicht als Mainstream-Veröffentlichung, sondern als etwas, das sich in erster Linie an unsere eingefleischten Fans richtet“, unterstreicht er. „Die Musik ist für Hochzeiten und Beerdigungen gedacht. Obwohl das Album nur für einen kleinen Adressatenkreis interessant sein wird, muss ich mir also dennoch besondere Mühe geben. Denn wenn jemand zu meiner Musik beerdigt wird, sollte sie zumindest gut sein!“