Titelstory: The Beatles- zu Besuch bei der alten Tante

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Titelstory: The Beatles- zu Besuch bei der alten Tante

Beatles (24)

ZU BESUCH BEI DER ALTEN TANTE

Vor 19 Jahren erschien LIVE AT THE BBC, ein Zusammenschnitt aus 68 Tracks, Musik und Interviews, bunt gemischt. Nimmersatte Beatles-Fans fragten sich schon damals: Gibt’s da noch mehr? Gibt es. ON AIR – LIVE AT THE BBC VOLUME 2 ist das in gleicher Machart gestrickte Sequel. Mit 63 Tracks, klanglich aufgearbeitet und für wahre Fans natürlich Pflichtprogramm.

Lang lebe die britische Musikergewerkschaft! Denn immerhin war es diese einst äußerst selbstbewusst auftretende Institution, der wir heute jede Menge Live-Mitschnitte aus dem BBC- Radioprogramm verdanken. Aufgenommen unter professionellen Bedingungen und daher auch klanglich meist auf erfreulichem Niveau. Und das kam so: Die „Musicians’ Union“ setzte durch, dass die BBC – damals noch Monopolist in Sachen Inselfunk – ihr „leichtes Unterhaltungsprogramm“ höchstens fünf Stunden pro Tag mit Schallplattenmusik bestreiten durfte – der so genannten „needle time“. Der Rest musste mit Live-Aufnahmen aufgefüllt werden, damit der britische Musikant auch ja in den Genuss regelmäßiger, natürlich gesetzlich festgeschriebener Einkünfte kam. Wobei „live“ nicht zwangsläufig „in Echtzeit“ bedeutete: Die BBC bat in der Regel zu Aufnahmen ins Studio, die dann ein paar Tage später ausgestrahlt wurden, meist ergänzt durch launige Interviews mit den Künstlern. Und da diese Live- Aufnahmen zumeist absolut werktreue Interpretationen bekannter Hits waren, sprach auch nichts gegen häufige Wiederholungen. Für junge Bands war eine Einladung der „alten Tante“ BBC logischerweise Adelsschlag und kommerzielle Chance zugleich. Auch der Aufstieg der Beatles vom lokalen zum landesweiten Phänomen wurde durch ihre Präsenz im britischen Rundfunk entscheidend befeuert, denn die BBC erreichte naturgemäß auch abgelegene Landesteile, die nur selten in den Genuss von Live-Shows angesagter Künstler kamen.

Was hat ON AIR – LIVE AT THE BBC VOLUME 2 denn nun zu bieten? Gleiches, was auch schon der Vorgänger bot: Songs aus der Frühzeit der Beatles, ergänzt um Cover-Versionen wie ›Lucille‹ und ›I Got A Woman‹, sowie jede Menge – zum Teil ausnehmend witzige – Studiodialoge. Was erneut auffällt: Diese BBC-Takes haben einen ganz eigenen Charakter, denn es handelt sich eben nicht um Live-Mitschnitte im herkömmlichen Sinne, also mit Publikumslärm und ausgewiesener Hallenakustik, sondern um intime kleine Aufnahmen, ganz ohne kreischende Mädels. Etwas rauer als die jeweiligen Studioversionen, klingen sie vermutlich genau so, als ob einem die Beatles um 1964 ein Privatkonzert im heimischen Wohnzimmer gewährt hätten – was ja nun eine ziemlich atemberaubende Vorstellung ist. Ebenfalls auffallend: Drei Mikrofone, zwei Gitarren, ein Bass und ein Schlagzeug reichten völlig, um all das zu transportieren. Festgehalten auf einem zeitgenössischen Tonbandgerät, keine Effekte, keine Overdubs, kein Bullshit. Dafür drei Typen, die auch ohne ausgefeiltes InEar-Monitoring perfekte Harmoniegesänge zustande brachten. Chapeau.

Doch nichts währt bekanntlich ewig, und auch die Liebe der Beatles zu den BBC-Sessions erkaltete bedauerlicherweise im Laufe der Jahre. Zunächst, weil der immer vollere Terminkalender statt dessen Tourneen rund um den Erdball diktierte. Auch Japan, Australien und die Philippinen wollten schließlich von den Fab Four bespaßt werden, von den stets hungrigen USA ganz zu schweigen, und die sind nun mal ein ziemlich großes Land. Warum also im Radiostudio in Maida Vale herumkaspern, wenn man stattdessen in ausverkauften Football-Stadien 30.000 enthusiasmierte Amerikaner in den Wahnsinn treiben und anschließend einen Sack voll Dollars mit nach Hause nehmen kann?

Zudem: Spätestens ab 1967 wären die immer komplexer werdenden Songs im BBC-Studio kaum noch mit vertretbarem Aufwand realisierbar gewesen. Ein Stück wie ›I Want To Hold Your Hand‹ bereitete 1963 naturgemäß überhaupt keine Probleme. Das deutlich anspruchsvollere ›Paperback Writer‹ fand 1966 zwar noch den Weg ins Live-Programm der Band, doch dessen absolut exakte Intonation einfordernder A-Capella-Part sorgte in Verbindung mit Ohrenbetäubendem Publikumslärm und in Ermangelung brauchbarer Monitoranlagen für zunehmend schlechte Laune im Beatles-Camp. Wenn’s ganz arg kam, griff man zu einem einfachen Trick: Eine kleine, neckische Tanzbewegung zum richtigen Zeitpunkt reichte völlig aus, um das ohnehin hysterische Publikum gleich noch ein paar Dezibel lauter schreien zu lassen – womit man heikle Passagen halbwegs elegant überspielen konnte. Eine Notlösung, für Musiker, die ihren Job ernst nehmen, aber keine wirklich ehrenhafte Option. Weshalb die Beatles noch im gleichen Jahr den Entschluss fassten, Live-Performances generell aufzugeben.

Was auch die Radio-Sessions betraf. Besagtes ›Paperback Writer‹ hätten sie im BBC-Studio ganz sicher noch hinbekommen. Aber ›I’m The Walrus‹? Oder gar ›A Day In The Life‹? Völlig undenkbar, die Technik war noch nicht so weit. Ein schlichter Unplugged-Ansatz hätte sich als Lösung angeboten, doch der war leider noch nicht erfunden. Und auch nicht unbedingt erwünscht: Radiomacher und hörer legten damals großen Wert darauf, dass die Stücke möglichst genauso klangen wie auf Platte, und nicht anders. Ein weiterer, ganz profaner Grund für die Session-Abstinenz nach 1965 dürfte auch nicht eben unerheblich gewesen sein: The Beatles waren Mitte der 60er Jahre so groß, dass die BBC ihre Songs ohnehin spielte – spielen musste, wenn man so will, notfalls eben während der „needle time“. Und dass die gewerkschaftlich festgelegten Honorarsätze für Radioaufnahmen die frischgebackenen Millionäre wirklich beeindruckt hätten, darf dann doch bezweifelt werden. Auf den Punkt gebracht: Die Beatles hatten es nicht mehr nötig. Interviews gaben sie der BBC natürlich auch weiterhin, doch mit der Live-Musik war seit 1965 Schluss. Schade. Aber freuen wir uns über das, was wir kriegen können: Das aktuell remasterte Doppelalbum LIVE AT THE BBC und die Fortsetzung ON AIR – LIVE AT THE BBC VOLUME 2. Womit das Glas halbvoll ist, und ganz gewiss nicht halbleer.

Text: Uwe Schleifenbaum

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