Pünktlich zum 30. Todestag erscheinen Lennons remasterte Solowerke, von Yoko Ono tatkräftig forciert. Soll man ihr deshalb böse sein?
ür manche Beatles-Fans ist Yoko Ono bekanntlich ein rotes Tuch, hat sie doch angeblich die Trennung der Fab Four auf dem Kerbholz. Und auch als Profi-Witwe hat sie sich in den vergangenen 30 Jahren nicht nur Freunde gemacht, böse Zungen unterstellen ihr allzu eifrige Geschäftstüchtigkeit. Ihr eigenes künstlerisches Schaffen? Den meisten Rockfans wohl eher ein Buch mit sieben Siegeln. Was gerade anlässlich der erneuten Wiederveröffentlichung von Lennons Solowerken dann doch ein paar Korrekturen nötig macht.
Wer behauptet, den Künstler und Menschen John Lennon zu respektieren, der sollte dabei auch seine Liebe zu Yoko Ono mit einbeziehen. Wer es nicht tut, setzt sich dem Verdacht aus, nicht den realen Lennon zu schätzen, sondern eine Fantasiefigur. Der unausrottbare Vorwurf, Yoko Ono habe die Beatles entviert, ist ohnehin nicht mehr haltbar. Wie man längst weiß, spielten handfeste Geschäftsinteressen, Ego-Probleme und persönliche Zerwürfnisse die Hauptrolle. Dass etwa während der Arbeiten an LET IT BE George Harrison kurzzeitig die Band verließ, hatte mit Yoko Onos Anwesenheit nicht allzu viel zu tun.
Was ihre Nachlassverwaltung angeht: Dass sie versucht, sein Werk in der Öffentlichkeit präsent zu halten, ist lobenswert, dass dabei auch Ungereimtheiten auftauchen, verzeihlich. Warum der Back-Katalog Lennons erneut remastert wurde, mag verwundern, doch Yoko Ono nennt ihre Gründe – und zwar im nachfolgenden Interview. Verglichen mit den posthumen Aktivitäten anderer Musiker, etwa Queen nach der Ära Mercury, ist Onos Vorgehen von geradezu pietätvoller Zurückhaltung, von den gefühlten 243 „neuen“ Alben, die seit Jimi Hendrix’ Ableben erschienen sind, ganz zu schweigen.
Und Yoko Onos künstlerisches Werk? Nun ja, das ist geprägt von Licht (ihr letztes Album) und Schatten (ihr Gesang bei der Plastic Ono Band). Ansonsten: Bildende Kunst, und die ist bekanntlich Onos Hauptbeschäftigung, ist nicht das Kernthema dieser Publikation. Dass ihre Werke in der Kunstwelt hohen Respekt genießen, ist allerdings unzweifelhaft.
Natürlich ist es kein Zufall, dass Lennons Solowerke – und einige von Harrison – gerade im vierfachen Jubiläumsjahr veröffentlicht werden (vor 70 Jahren Lennons Geburt, vor 50 Jahren erster Gig in Hamburg, vor 40 Jahren Trennung der Beatles, vor 30 Jahren Lennons Ermordung). Sich darüber aufzuregen und einzig kommerzielle Interessen zu unterstellen, ist allerdings müßig. Niemand wird gezwungen, die Neuauflagen zu kaufen, und wer es tut, der hat seine Gründe. Zudem: Das Business funktioniert eben so, und das auch nicht erst seit gestern. Was tatsächlich zählt, ist doch letztlich nur eines: die Musik.
Yoko, es wird zwei große Events zu Johns 70. Geburtstag geben. Der eine findet in Liverpool statt und wird von Ozzy Osbourne moderiert. Warum nicht von dir?
Weil ich davon nichts weiß.
Wie bitte?
Davon hat mir keiner was gesagt. Wer moderiert da?
Ozzy Osbourne und seine Frau Sharon.
Oh, das ist OK. Das sind sehr nette und intelligente Leute.
Und große Beatles-Fans.
Das ist gut, sehr gut sogar.
Heißt das, du wirst stattdessen dem Event in Los Angeles beiwohnen?
Los Angeles? Auch davon weiß ich nichts.
Es findet am 9. Oktober unter dem Motto „The Sidewalk Chalk Art Celebration“ statt – vor dem Capitol Tower in Hollywood.
Worum geht es da?
Ich dachte, das könntest du mir erklären?
Leider nicht. Ich meine, all das passiert an Johns Geburtstag. Die ganze Welt versucht, irgendwelche Tribut-Projekte und Veranstaltungen an den Start zu bringen. Deshalb kriege ich gerade wahnsinnig viel Post von Leuten, die mir berichten, was sie alles vorhaben. Ich finde das toll.
Wie wirst du das Jubiläum begehen? Oder bleibst du zu Hause und schaust dir das Ganze im Fernsehen an?
Warum nicht? (kichert) Ich werde da doch nicht wirklich gebraucht, oder? Und wenn Leute irgendwelche Konzerte ohne mich veranstalten wollen, habe ich damit auch kein Problem. Die einzige Bedingung ist, dass es gut für Johns Musik ist. Das ist das Wichtigste. Dass es seinem Andenken nicht schadet. Da ist zum Beispiel diese Person, deren Namen ich leider vergessen habe – ein sehr guter Produzent. Er denkt darüber nach, all diese Konzerte zu organisieren, die gleichzeitig an vielen verschiedenen Orten stattfinden, und zwar alle unter dem Titel „Imagine Peace“. Da soll es dann einzig und allein darum gehen, jungen, aufstrebenden Bands, die wirklich gut sind, ein Forum zu geben. Also nicht einfach zu sagen: „OK, machen wir ein Tributkonzert für John und laden jede Menge bekannte Leute ein.“ Das wäre doch viel zu einfach.
Also sind es die kleinen Dinge, die zählen – und nicht so sehr die großen?
Genau. Wobei ich nicht bei all diesen Konzerten vorbeischauen werde. Das ist ja wohl klar. Aber: Ich sage auch nicht, dass ich zu Hause bleiben und Fernsehen gucken werde. Nein, ich feiere mit der EMI, der Plattenfirma. Denn sie leistet John einen ganz besonderen Tribut – in Form von zwei Boxsets, die einfach fantastisch sind. Eines davon nennt sich „Signature“ und enthält alles, was er als Solokünstler veröffentlicht hat. Das sind acht CDs, und es ist eine richtig große Box. Die andere, die etwas kleiner ist, heißt „Gimme Some Truth“, was ja sehr zeitgemäß ist. Darin sind dann wiederum vier CDs.
Die was beinhalten?
Eine dreht sich nur um Frauen – weil er sich sehr für ihre Rechte eingesetzt hat. Die andere ist politisch, und eine weitere behandelt seine musikalischen Wurzeln. Er covert da alle möglichen Songs. Alle vier CDs zeigen auf unterschiedliche Weise, wofür er sich interessiert hat.
Sprich: Alle zusammengefasst ergeben ein Bild seiner komplexen Persönlichkeit?
Ganz genau. Denn er hatte definitiv eine multiple Persönlichkeit. (kichert) Aber neben den zwei Boxen sind da auch noch zwei DVDs… Nein, CDs. Und eine davon ist eine „Best Of“ mit all seinen Hits.
Die mittlerweile jeder im Regal beziehungsweise auf dem iPod haben dürfte…
Stimmt. Aber diese hier ist für Leute, die gerade erst geboren wurden – also vor zehn Jahren oder so. Die fangen lieber mit einer Best Of an als mit einer Box. Und dann ist da noch die „stripped down“-Version von DOUBLE FANTASY.
Darf man fragen, was das bedeutet?
Oh, mir wurde gesagt, das wäre eine angesagte Sache. Zumindest habe ich das so verstanden. Es bedeutet, dass die vielleicht 20 oder 30 Instrumente, die für einen Song zum Einsatz kamen, deutlich reduziert werden. Auf diese Weise hört man endlich, was John da singt, was ich für sehr wichtig halte.
Indem man zum Beispiel auf die Streicher verzichtet?
Ja, und wenn du das tust, bist du hinterher total überrascht, wie gut er als Sänger war. Denn damals, als wir das aufgenommen haben, war es einfach so, dass man beim Abmischen als erstes darauf geachtet hat, dass die Instrumente kraftvoll sind. Wodurch dann aber die Stimme begraben wurde. Jetzt wird die Welt überrascht sein, wie toll er gesungen hat. Und man kann auch endlich alle Texte verstehen. Für mich ist diese Version viel besser als das Original.
Dabei hast du bereits zu Beginn des Jahrtausends Johns Solo-Alben als Remasters veröffentlicht. Warum jetzt erneut? Hat sich technisch so viel getan, dass es ein ganz anderes Hörerlebnis ist?
Na ja, es hat mit dem Mastering zu tun. Ein sehr wichtiger Prozess. Und diesmal war ich persönlich dabei, als das in den Abbey Road Studios passiert ist – ich habe alles selbst überwacht.
Und das allein ist Rechtfertigung genug, um dieses Werk immer und immer wieder neu auf den Markt zu bringen?
Immer und immer wieder. Aber ich mache es auch immer besser! Es klingt heute wirklich viel klarer. Die Technik sorgt dafür, dass die Leute eine viel intensivere Beziehung dazu aufbauen können als zu früheren Versionen.
Klingt, als wärst du wirklich eine professionelle Witwe – als würde sich bei dir tatsächlich alles um John drehen…
Tut es auch. Und es ist mir ein Vergnügen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als etwas für John zu tun, das ihm und seiner Musik gerecht wird. Auch, wenn es nicht immer leicht ist. Aber ich kümmere mich jetzt schon seit 30 Jahren um Johns Sachen. Und das war eine gute Übung für dieses Jubiläum. Insofern bin ich darauf vorbereitet.
Das heißt, du hast Trauer und Schmerz inzwischen überwunden?
Das nicht. Aber ich habe mich zumindest daran gewöhnt – auch wenn das mitunter schwierig ist. Sehr schwierig sogar.
Du wohnst immer noch im Dakota-Gebäude, vor dem er erschossen wurde. Darf man fragen, was dich dort hält?
Weil das mein Zuhause ist – das Zuhaue von John und mir. Und es gibt ja viele Menschen, die solche Tragödien erleben. Die kann man nicht allein dadurch verarbeiten, indem man in ein anderes Haus zieht. Also quasi vor dem flüchtet, was passiert ist. Bei mir ist es ähnlich. Zumal das Dakota ja auch der Ort ist, an dem John und ich ein wunderbares Familienleben mit Sean hatten. Und für Sean bedeutet es immer noch sehr viel. Ganz abgesehen davon: Jeder Raum darin ist ein Raum, den John berührt hat. Und ich werde nicht an einen neuen Ort ziehen, an dem so gar nichts von ihm ist. Nicht einmal eine Erinnerung.
Würde John heute noch leben, wäre er 70 Jahre alt…
Stimmt.
Fragst du dich manchmal, wie er in dem Alter wäre?
Na ja, er wäre kein typischer Großvater, so viel ist sicher. Und er war immer ein Mensch mit einem sehr jungen Geist – genau wie ich. Insofern bin ich mir sicher, dass wir noch zusammen arbeiten würden. Denn er war ein regelrechter Workaholic. Also wahrscheinlich würden wir zu Hause sitzen und wie die Verrückten arbeiten.
Wie käme er mit einer Welt klar, die immer noch von Kriegen, aber auch von Umweltkatastrophen und einer regelrechten Besessenheit von Promis aller Art dominiert wird?
Nun, ich denke, er wäre sehr traurig darüber. Genau so, wie es die meisten von uns sind. Einfach, weil die Menschen unbelehrbar sind und nichts an sich und ihrem Verhalten ändern – egal, was auch passiert.
Wenige Monate vor seinem Tod hat er mit „Double Fantasy“ ein erfolgreiches Comeback lanciert und wollte angeblich gleich wieder ins Studio, um den Nachfolger einzuspielen. Stimmt das – oder ist das einer von vielen Mythen?
Nein, das stimmt. Er war in einer sehr kreativen Phase, hatte einen richtigen Lauf.
Gibt es demnach noch Sachen, an denen er vor seinem Tod gearbeitet hat und die nie veröffentlicht wurden?
Nun, es gab ein paar Stücke, von denen ich dachte, dass es sehr wichtig wäre, sie zu veröffentlichen – und zwar so, wie das dann auch geschehen ist. Wie etwa „Free As A Bird“, das von den Beatles, den anderen Beatles, aufgenommen wurde. Das war die einzig legitime Art, um diesen Song zu komplettieren. Und ich muss immer entscheiden, was das Beste für dieses oder jenes Stück ist – eben, um es nicht einfach so auf den Markt zu werfen, wie John es auf seinem kleinen Kassettenrekorder zu Hause aufgenommen hat, sondern in einer Art und Weise, dass es die Herzen der Menschen wirklich berührt.
Das heißt, es gibt noch Material, das diesem Anspruch – oder besser: dieser Form – nicht gerecht wird?
Durchaus. Aber wie gesagt: Es ist eine schwierige Entscheidung – und die muss ich treffen.
Hätte er die Beatles jemals reformiert oder wäre er je wieder mit Paul ins Studio gegangen?
Er war damals auf einem etwas anderen Trip.
Also hat er nie darüber gesprochen?
Warum sollte er?
Weil jeder Mensch irgendwann in seinem Leben mal nostalgisch wird und zurückblickt statt immer nur nach vorne.
Kann schon sein, dass er das getan hätte. Aber du fragst mich hier etwas, das ich wirklich nicht beantworten kann.
Wenn wir vom Musiker John Lennon zum Menschen gehen: Gibt es da eine Seite an ihm, die die Leute vielleicht noch nicht kennen – die nur dir bewusst ist?
Ich weiß nicht, was du von ihm kennst und was nicht. Aber ich würde sagen, dass er nichts zurückgehalten hat – er hat immer alles gegeben, was in ihm steckt. Er hat wirklich nichts verheimlicht. Ich bin mir sicher, dass sich gerade deshalb so viele Leute mit ihm identifizieren konnten – weil er sein Inneres immer nach Außen gekehrt hat.
Um zum Schluss zu kommen: Welches der Alben, die jetzt neu erscheinen, ist dein persönlicher Favorit?
Ich mag alle Alben von John und alle Songs, die er als Solo-Künstler aufgenommen hat. Selbst wenn die Leute sagen: „Man kann nicht alles mögen“, so kann ich das sehr wohl. (kichert) Ich bin selbst Künstlerin und Musikerin, deshalb weiß ich, dass er ein einmaliges und ungewöhnliches Talent hatte. Jedes seiner Stücke war so, dass es kein anderer hätte schreiben und erst recht nicht so hätte spielen können.
Und warum sind die beiden Teile von TWO VIRGINS nicht Gegenstand dieser Aktion? Warum fehlen sie?
Keine Ahnung. Sind sie nicht in der SIGNATURE-Box?
Leider nein.
Das war mir nicht bewusst. Ich werde das prüfen.
Text: Uwe Schleifenbaum ✶ Yoko-Interview: Marcel Anders
Unter dem Motto „Gimme Some Truth“ steht John Lennon anlässlich seines 70. Geburtstages am 9. Oktober diesen Jahres im Mittelpunkt einer überaus umfangreichen Werkschau.
Sämtliche acht Soloalben erscheinen im digitalen Remastering 2010, überwacht von Yoko Ono in den Londoner Abbey Road Studios. Verpackt sind sie analog zu den BEATLES REMASTERS in Deluxe-Digipacks: JOHN LENNON/PLASTIC ONO BAND, IMAGINE, SOME TIME IN NEW YORK CITY, MIND GAMES, WALLS AND BRIDGES, ROCK’N’ROLL, DOUBLE FANTASY sowie MILK AND HONEY.
Das letzte Werk von Lennon/Ono geht gleich in doppelter Ausführung an den Start: DOUBLE FANTASY STRIPPED DOWN wurde von dem ursprünglichen Produzenten Jack Douglas und Yoko Ono all der nervigen Achtziger-Jahre-Arrangements entledigt. CD 1 enthält das Original im Remastering 2010, CD 2 die Stripped Down Version. In ebenfalls zwei Versionen verfügbar ist POWER TO THE PEOPLE: THE HITS. Die remasterte Best-Of-Sammlung gibt’s als Standard Edition mit einer CD sowie als Deluxe Version mit Bonus DVD inklusive aller Videoclips.
Wer sich intensiv mit John Lennon beschäftigen möchte, dem sei GIMME SOME TRUTH empfohlen: ein luxuriöses 4-CD-Set mit 72 Songs, das Lennons Lebenswerk nicht etwa chronologisch, sondern thematisch aufarbeitet: CD1, „Working Class Hero“, präsentiert Johns engagierte Seite mit politisch motivierten Songs, CD2, „Borrowed Time“, thematisiert indes Johns Philosophien. Ausschließlich Liebeslieder finden sich auf CD3, „Woman“, während auf auf CD4, „Roots“, traditionell gerockt wird.
Als Sammlerstück im edlen weißen Design präsentiert sich die SIGNATURE BOX: Alle acht Studio-Alben im digitalen Remastering 2010, als Zugabe gibt’s zwei Bonusdiscs: Auf der ersten versammeln sich alle Singles A- und B-Seiten, die Zweite enthält rare Studio-Outtakes und Home Recordings – zum Großteil unveröffentlichtes Material. Dazu gibt’s einen Kunstdruck sowie ein Hardcover-Buch mit neuen persönlichen Essays von Yoko Ono sowie den Söhnen Julian und Sean.
Gewürdigt wird in diesem Herbst auch der 2001 verstorbene George Harrison: Zu Ehren des indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, der seinen 90. Geburtstag feiert, erscheint das Box-Set RAVI SHANKAR GEORGE HARRISON COLLABORATIONS. Drei CDs und eine DVD dokumentieren die langjährige Freundschaft der beiden Musiker über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Enthalten sind darin die Alben CHANTS OF INDIA, THE RAVI SHANKAR MUSIC FESTIVAL FROM INDIA sowie SHANKAR FAMILY & FRIENDS. Auf der DVD findet sich der Mitschnitt RAVI SHANKAR’S MUSIC FESTIVAL FROM INDIA, aufgezeichnet 1974 in der Londoner Royal Albert Hall.
Text: Michael Köhler