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Steven Wilson: Unglaubliche Geschichten

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Steven Wilson: Unglaubliche Geschichten

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Musiker, Songwriter, Produzent, gefragter Remixer – Steven Wilson ist in den Augen vieler der Tausendsassa des modernen Prog. Und er ist ein Enigma. Sein neues Album, das „so viel meiner musikalischen Persönlichkeit vereint“, wird vielleicht mehr Fragen beantworten, als es aufwirft.

Als Teenager in Hemel Hempste ad la s Steven Wilson „Descending“, eine Kurzgeschichte des amerikanischen Science-Fiction-Autors Thomas M. Disch. Disch war ein Satiriker und Atheist, der kein Blatt vor den Mund nahm und schon in den 60ern kein Geheimnis aus seiner Homosexualität machte (2008 beging er Selbstmord). Er war eine geplagte Seele. „Descending“ ist eine grausame, trostlose Erzählung über einen reuelosen Faulenzer, der in einem Einkaufszentrum die eine Rolltreppe nach unten nimmt und nicht mehr von ihr runterkommt. Ein Bild, das auf Wilson – der auch eine Faszination für Serienmörder und die düstereren Gef ilde der Menschheit allgemein entwickelt hatte – nachhaltig Eindruck machte. Man könnte es als einen Vorboten der bedrohlichen, Industrial-gefärbten Teile seines Katalogs betrachten. Vor allem jedoch pflanzte es das Bild der endlosen Treppe in seinen Kopf. Von UP TH DOWNSTAIR, dem ersten Album von Porcupine Tree, bis zu ihrem Song ›Arriving Somewhere But Not Here‹ von 2005 ist es zu einem wiederkehrenden Motiv geworden, einer Metapher für einen nie endenden Abstieg, wie die dystopische Rolltreppe von Thomas M. Disch. Oder für das Leben als eine Treppe nach … irgendwo.

„Ich denke, viel von meinem Songwriting über die Jahre bezog sich lose auf diese Idee, dass es um die Reise geht, nicht die Ankunft, um den Prozess und nicht das Ziel“, sagt er heute, während er vor seinem Haus in Nordwest-London sitzt. „Und je älter ich werde, desto mehr begreife ich: Das ist, wie das Leben wirklich funktioniert, oder?“ Im Lockdown schrieb er eine Kurzgeschichte namens „The Harmony Codex“, in der er das Bild der endlosen Treppe wie einen Traum einsetzte (sie erschien 2021 als Teil seines Buchs „Limited Edition Of One“), aber immer noch in der Gegenwart verankert. Ob nun die von Bildschirmen besessene Jugend in Porcupine Trees FEAR OF A BLANK PLANET oder die urbane Isolation in seinem Soloalbum HAND. CANNOT. ERASE – Wilson hatte noch nie Probleme damit, Inspiration aus dieser Welt zu ziehen. „Autoren wie Arthur C. Clarke und Philip K. Dick schrieben vielleicht über andere Planeten, aber tatsächlich schrieben sie über sich selbst“, erörtert er. „Sie schrieben über die Menschheit. Ich denke, das war schon immer so in der Science-Fiction: Sie ist eine wunderbare Lupe für menschliches Verhalten. Ich habe mich dem jetzt etwas weniger nihilistisch genähert als Thomas Disch“, fügt er hinzu. „Er schrieb mit die depressivsten Science-Fiction-Werke, die ich je gelesen habe. Aber ich habe seine Metapher, die Geschichte dieser nie ankommenden, stets abwärts fahrenden Rolltreppe in einem Einkaufszentrum, danach nie vergessen.“ Sein siebtes Solowerk, ebenfalls THE HARMONY CODEX betitelt, transportiert all das nun auf kolossales Klangterrain. Es ist eine labyrinthartige Escher-Treppe von einer Platte und eine einnehmde, 65-minütige Reise durch Wilsons kompletten musikalischen Kosmos – entstanden im Lockdown,
doch weit darüber hinausschauend. Es ist das Produkt einer seltsamen Zeit in der Historie. Einer Karriere, in der er in unzählige Stilrichtungen und Sounds eintauchte. Und eines Lebens, das nicht so aussieht, wie er es sich einst vorgestellt hat.

„Es ist nicht so, wie ich es erwartet hätte“, sinniert er, während seine Frau und Stieftöchter irgendwo in den Zimmern hinter ihm sind. „Aber es macht mich trotzdem sehr glücklich.“ Steven Wilson begeistert sich schon lange für Unerwartetes. Er ist ein ernsthafter, ein wenig seltsamer Typ, der genauso von Disco-Deep-Cuts schwärmen kann wie vom Industrial-Lärm von Throbbing Gristle oder Pink Floyd, King Crimson, Gentle Giant und anderen Prog-Legenden (von denen er die meisten irgendwann mal in 5.1/Atmos geremixt hat). Zudem ist er ein Cineast, der liebend gerne mal die Musik zu einem Film im traumartigen Auteur-Stil von David Lynch oder Stanley Kubrick beisteuern würde. Seine Soloplatten haben sich unterdessen mit schrägem Jazz (GRACE FOR DROWNING), klassischem Progrock (THE RAVEN THAT REFUSED TO SING), 80er-Artpop (TO THE BONE) und mehr befasst. Er hat sogar Platten gemacht, von denen niemand weiß, dass sie von ihm sind – esoterische Werke, unter Pseudonymen veröffentlicht, unbelastet von den Erwartungen, die damit einhergehen, ein bekannter Künstler zu sein. Dann kam der März 2020 und veränderte alles. Wilsons Gedanken über das Leben, Erinnerungen und das moderne Zeitalter kollidierten in diesen so unglaublich seltsamen, eingesperrten Wochen, aus denen Monate wurden. Und sie führten zu einem Album, das eine ungewöhnliche Mischung aus Autobiograf ie, Beobachtung und traumartiger Erzählung ist. Er war nicht mal sicher, ob er es veröffentlichen würde, aber er wusste, dass er es machen wollte. „Ich glaube, es gab mir ein wenig das Gefühl, auf einer Insel zu sein, und ließ mich ein bisschen weniger an mein Publikum denken“, sagt er über jene Zeit. „Ein sehr surrealer, man könnte sagen unwirklicher Geisteszustand. Wie: ‚Das kann nicht in der Realität passieren, oder?‘ Wie viele Menschen genoss ich die Isolation am Anfang sogar. Dann wurde es weniger angenehm, und schließlich lähmend. Das Songwriting fand also in allen möglichen verschiedenen Stimmungen statt.“

Während Wilsons vorangegangene Solowerke sich meistens eine Spur aussuchten und sie nicht wechselten, trifft auf THE HARMONY CODEX das Gegenteil zu. Es gibt vierminütige Popstücke und 10-Minuten-Tracks. Elektronik, Gitarrensoli und Orchestertexturen. Feingliedrige, meditative Americana (›What Life Brings‹) und Epen à la Roger Waters (›Impossible Tightrope‹). Donnernde, atmosphärische Drum-Maschinen (›Inclination‹), außerirdische Synthies und Spoken-Word-Passagen – Letztere von seiner Frau Rotem Wilson. Unbequeme Geschichten über das 21. Jahrhundert (›Actual Brutal Facts‹, ›Beautiful Scarecrow‹) stehen neben sanften, melodischen Meditationen über die Sterblichkeit wie ›Time Is Running Out‹. Das Album ist weitläufig, filmartig und konfus – was in diesem Fall positiv gemeint ist. „Es mag bei früheren Platten immer einen Moment gegeben haben, in dem ich gesagt habe: ‚Nein, ich kann unmöglich ›Inclination‹ auf demselben Album haben wie ›Impossible Tightrope‹‘“, erklärt er. „Diesmal hatte ich keine Agenda. Ich wollte einfach eine faszinierende, packende musikalische Reise erschaffen, die gewissermaßen all meine Facetten zeigt, und hoffentlich auch ein paar neue.“ Alle Beteiligten arbeiteten im Homeoffice und wurden spezifisch für jeden Track ausgesucht, um „die richtigen Hände“ dafür zu haben. Das ließ mich jeden Song als sein eigenes kleines musikalisches Universum betrachten. Bei jedem Stück dachte ich also: ‚Okay, wen würde ich gerne darauf spielen lassen?‘ Ich verschickte Dateien, gab hier und da ein paar kleine Anweisungen, aber generell wartete ich und ließ mich von den Leuten überraschen.“

Einige der Partner sind weniger überraschend. Prog-gesinnte Gesellen wie Guy Pratt und Lee Harris (beide sonst bei Nick Mason’s Saucerful Of Secrets) erscheinen hier ebenso wie Wilson-Stammgäste wie Keyboarder Adam Holzman, Saxofonist Theo Travis (Soft Machine) und Bassist Nick Beggs. Ninet Tayeb, eine Popsängerin aus Israel, ist ebenfalls nicht zum ersten Mal an seiner Seite, sie singt auf einigen Tracks und schrieb einen Text zu der kraftvollen Pink-Floyd-meets-Bond-Soundtrack-Ballade ›Rock Bottom‹, inspiriert von ihren Erfahrungen mit ihrer bipolaren Störung. Andere Kollaboratoren sind jedoch weniger offensichtlich. Jack Dangers (von den Elektronikpionieren Meat Beat Manifesto aus den 90ern) hat Drum-Machine-Parts beigesteuert. Für Impossible Tightrope‹ wollte Wilson „einen Jazztrommler, der mit Aphex Twin und Squarepusher aufgewachsen ist“. Er fand ihn: Nate Wood. Auf einer zweiten Disc finden sich Remixe und Neuinterpretationen von den Manic Street Preachers, Roland Orzabal (Tears For Fears) und Mikael Åkerfeldt, um nur drei zu nennen, die im Wesentlichen eine Alternativfassung desselben Albums bieten. Es klingt nach viel, und ist viel. „Ich hatte das Gefühl, ins Studio zu gehen und zu sagen: ‚Scheiß drauf, ich mache einfach genau die Platte, die ich jetzt machen will, die ich in diesem Moment meines Lebens hören will, fast als Gegengift für alles, das gerade auf der Welt passiert.‘“

THE HARMONY CODEX wird nicht allen gefallen, und Wilson hat kein Problem damit. Er ist es gewohnt, seine Hörerschaft im Namen der Weiterentwicklung vor den Kopf zu stoßen. THE FUTURE BITES von 2021 musste er gegenüber Fans verteidigen, die mehr Gitarren verlangten. Er sagt oft, dass es ihm Spaß macht, die Leute zu provozieren, und nennt Formwandler wie Prince und David Bowie als Vorbilder. Aber er ist auch nur ein Mensch. Natürlich wirkt sich solche Kritik auf seine nächsten Schritte aus, ob bewusst oder nicht. „Es gibt immer eine Reaktion auf die vorige Platte, in allem, was ich tue“, gesteht er ein. „THE FUTURE BITES war dieses sehr kontrollierte, sehr knappe, nur 40 Minuten lange Elektropop-Werk – oder zumindest war es für meine Verhältnisse Elektropop. Also dachte ich dieses Mal vielleicht unterbewusst : ‚Okay, machen wir eine große, selbstgefällige, schamlos ambitionierte, prätentiöse, filmische Reise von einem Album.‘ Geben wir ihnen etwas, in dem sie sich verlieren können. Ich sehe nicht viele, die solche Platten machen“, sagt er und lacht. „Meiner Meinung nach ist das 2023 die wirklich alternative Musik.“

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1 Kommentar

  1. Bei seinen Remix – Geschichten bin ich persönlich sehr kritisch was das Resultat dieser zum Teil ,, Verschlimmbesserei ,, von Ur-Mixes darstellt.
    Viele seiner Remix – Arbeiten haben für mein dafürhalten die ursprüngliche Originalität der betreffenden Alben entfremdet, um nicht zu sagen völlig zerstört.

    Beim Remix sollte man behutsam vorgehen. Nicht die angesagten Sounds sollten das Maß sein, sondern das Original.
    Mr. Wilson hat sich des Öfteren von den aktuellen Hörgewohnheiten und den damit verbundenen Soundvorstellungen leiten lassen.
    Es muss nicht immer alles dem aktuellen Zeit-Geist-Geschehen angepasst werden.
    Jede Zeit-Epoche hatte ihren speziellen Charm sollte meiner Meinung nach erhalten bleiben………

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