Hat dieser Mann insgeheim schon längst eine Klonarmee aufgebaut, mit der er die Welt erobern will? Sein gigantischer Output über die letzten gut 20 Jahre deutet zumindest darauf hin, denn wie könnte ein einziger Mensch jemals so viel Musik produzieren? Viel erstaunlicher dabei ist, dass Quantität bei ihm nie zu Lasten der Qualität ging. Als Interviewpartner bleibt er diesem Prinzip treu: Er redet nicht nur viel, sondern auch noch äußerst eloquent. Und hat zu seinem neuen Album viel Geistreiches zu berichten.
Köln im Januar an einem dunkelgrauen Nachmittag. Die Schneemassen der letzten Woche versiffen zu einem schmutzig-feindseligen Eismatsch, der tief hängende Himmel hält den Smog gefangen und jegliches Licht auf Distanz, während die trost- wie gesichtslosen Fassaden des gigantischen Messegeländes und des gegenüber liegenden Hotels den Eindruck von erstarrendem Leben im nuklearen Winter nur verstärken. Einziger Schimmer von Freude: die Ankündigung, dass hier in wenigen Tagen die Süßwarenmesse ein Lachen ins Gesicht ihrer Besucher (und der Hersteller von Diabetes-Medikamenten) zaubern wird. Ein ziemlich passendes Szenario, um in das jüngste Werk dieses rastlosen Perfektionisten namens Steven Wilson einzutauchen, denn erstmals bettet er seine Musik in das Konzept einer klassischen Geistergeschichte.
Auch in anderer Hinsicht ist THE RAVEN THAT REFUSED TO SING (AND OTHER STORIES) ein Richtungswechsel für den umtriebigen Briten. Nach dem Vorgänger GRACE FOR DROWNING, der auf Doppelalbumlänge in die entlegensten Winkel des Wilson‘schen Musikkosmos blickte, ist sein drittes Album unter dem eigenen Namen nicht mal eine Stunde lang und darf als eines seiner zugänglichsten Werke bezeichnet werden. „Findest du? Interessant“, kontert der Maestro. „Ich kann das wohl nicht beurteilen, denn für mich ist die Musik, die ich mache, natürlich immer zugänglich. Klar, es ist nicht ganz so ausladend, und vielleicht auch etwas wärmer, aber eigentlich finde ich, dass die Musik auf dieser Platte sehr komplex geworden ist.“ Ja, komplex. Das kleine Wörtchen hängt sich fast jeder gerne um den Hals, der in diesem weitläufigen Gebiet namens Progrock was auf sich hält – ist etwas nicht komplex, kann es auch nicht Prog sein. Eine Sichtweise, der Wilson sich vehement entgegen stellt. „Ich würde nie absichtlich komplizierte Musik schreiben, damit sie kompliziert ist. Ich hasse diese Vorstellung! Leider ist vieles, was heute unter dem Begriff Prog erscheint, ein Triumph von technischen Fähigkeiten über Herz und Seele. Dabei war das ursprünglich gar nicht so. Es ging in den Anfangstagen des Prog nicht darum, seine Versiertheit möglichst eindrucksvoll unter Beweis zu stellen, sondern einfach um eine neue, andere Form der Kreativität. Dieser Ansatz ging aber leider immer mehr verloren und irgendwann schien es wirklich nur noch darum zu gehen, wer die schwierigsten Tonfolgen spielen oder die ausgeklügeltste Technik bedienen kann. Vor allem amerikanische Bands schießen da weit über das Ziel hinaus und haben ein ziemlich befremdliches Verständnis davon, worum es geht. Und genau das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass Prog heute so marginalisiert wird. Da gibt es keinen Platz mehr für Sinnlichkeit, für den Sex in der Musik, für die menschliche Qualität. Wenn du in der Malerei solche Fähigkeiten hättest, wärst du eben kein Maler, sondern vermutlich Grafikdesigner. Und wenn du so mit Worten umgehen könntest, wärst du wohl kein Dichter, sondern ein technischer Autor.“
Doch zurück zur Platte. Wenn die Komplexität kein Selbstzweck ist, wieso kam es dann trotzdem dazu, dass die neuen Kompositionen diesbezüglich neue Höhepunkte erreichen? Ganz einfach: Teamgeist und Inspiration. „Nach GRACE FOR DROWNING stellte ich eine Band zusammen, um auf Tour zu gehen. Das ist nie einfach, wenn man gewisse Ansprüche hat, doch ich landete mit diesen Leuten den absoluten Jackpot. Allesamt tolle Musiker, mit denen es auch menschlich bestens klappte und die genau verstanden, was ich wollte, worum es mir ging, und wie man das live umsetzen konnte. Die Chemie in der Band habe ich auf dieser Tour so genossen, dass ich erstmals seit langer Zeit wieder dazu inspiriert war, Musik zu schreiben, die spezifisch auf diese Musiker zugeschnitten war. Das letzte und einzige andere Mal, dass das der Fall war, war bei Porcupine Tree. Es war also ein ziemlich großer Schritt, denn der Schaffensprozess verändert sich durch diesen Perspektivwechsel von der eigenen Person zu anderen sehr. Vor allem aber war es eine riesengroße Herausforderung, denn eines ist sicher: Diese Jungs sind allesamt weitaus bessere Musiker als ich.“
Einer von ihnen ist Bassist Nick Beggs, ein äußerst gefragter Session-Musiker, dessen Geschichte ihn vielleicht nicht als erste Wahl für „anspruchsvolle“ Musik erscheinen lässt, denn seine Anfänge lagen in der 80s-Chartpopband Kajagoogoo. Kein Problem für jemand, der neben THE DARK SIDE OF THE MOON auch Donna Summer und Abba zu seinen frühesten Einflüssen zählt. „Es wäre doch dumm, da snobistisch zu sein. Vieles von der Musik aus den 80ern war viel besser, als viele heute glauben wollen. Und wovon waren diese Leute denn beeinflusst? Genau, sie waren in den 70ern selbst mit Prog, Pink Floyd und Led Zeppelin aufgewachsen!“ Beggs jedenfalls ist ein wahrer Meister, dessen Talent Wilson weit mehr Kopfzerbrechen bereitete als seine Vergangenheit. „Ich musste mich ganz schön anstrengen, um Stücke zu schreiben, die meine eigenen Fähigkeiten übersteigen. Das muss man sich erst mal vorstellen können, um es zu Papier zu bringen und dann kohärente Musik daraus zu machen. Als es dann an die Aufnahmen ging, war es für diese Truppe natürlich überhaupt kein Problem, die Sachen zu spielen. Ich musste sie sogar immer wieder einbremsen, damit sie nicht zu viel spielen! Denn bei aller Komplexität lege ich doch großen Wert darauf, dass Herz und Seele nicht zu kurz kommen. Das ist wie gesagt viel wichtiger als alle Fingerfertigkeit der Welt.“
Denn auch wenn dem 45-Jährigen der Ruf des besessenen Klangalchemisten anhaftet, sind Herz und Seele doch genau das, worum es immer geht. „Ich habe in meiner Musik schon immer über dieselben Dinge geschrieben, Beziehungen, Erfahrungen, Gefühle. Nur habe ich mich diesmal für einen anderen Rahmen entschieden, um den Inhalt einzubetten. THE RAVEN THAT REFUSED TO SING basiert auf einer Serie von Kurzgeschichten über Geister, was auf den ersten Blick ungewöhnlich für mich sein mag. Aber Geistergeschichten sind im Prinzip auch nicht wesentlich anders als andere. Auch hier geht es primär um Emotionen, um Verlust, Trauer, Angst, Reue. Das ist doch so ähnlich wie mit den technischen Fähigkeiten im Prog. Eigentlich sind sie sekundär, und genauso ist das übernatürliche Element oder der Horror in solcher Literatur nur ein Vehikel, um eine Story zu transportieren. Ich fand das in diesem Fall sehr reizvoll, und die Deluxe-Edition des Albums wird auch mit einem Buch und Illustrationen zu drei dieser Geschichten aufwarten. Das soll ein bisschen wie ein kindliches Märchen aussehen. Ich habe eben schon immer die Schönheit in der Traurigkeit gesehen.“
Alles andere als kindlich sind dagegen die Inhalte der sechs Stücke. „Das Titelstück handelt von einem alten Mann, der in seinem Haus sitzt, auf den Schnee draußen blickt, so wie wir jetzt, und auf sein Leben zurücksieht. Dabei erinnert er sich an seine Kindheit. Seine Schwester starb, als er klein war, und diesen Verlust, die jäh unterbrochene Verbindung hat er nie ganz verkraftet. Dann erscheint ein Rabe in seinem Garten, der immer und immer wieder kommt. Irgendwann glaubt der Mann, der Rabe sei die Manifestation seiner Schwester, die zurückgekehrt ist. Sie hatte immer zu ihm gesungen, als er ein Kind war, also versucht er nun, es dem Raben auch beizubringen. Doch der weigert sich…“
Auch ›The Watchmaker‹ befasst sich mit dem Blick zurück. „Dieser Uhrmacher ist seit 50 Jahren mit derselben Frau verheiratet und ihm wird klar, dass er sie eigentlich nie wirklich geliebt hat. Er kam mit ihr zusammen in dem Glauben, es sei nur vorübergehend und dass die Richtige noch kommen werde. Jetzt weiß er, dass das nicht mehr passieren wird, aber er wollte lieber irgendjemand an seiner Seite haben als allein sein. Mich interessiert es, solche Gefühlskonflikte auszuloten. Wenn du eine Beziehung nur aus Bequemlichkeit und Trägheit führst statt aus Leidenschaft, wie wirkt sich das auf dich aus?“
Einen kleinen Ausflug ins Fantastische gönnt er sich dann aber doch im Stück ›The Holy Drinker‹. Nein, nicht Großbritanniens Liebe zum Alkoholismus wird hier thematisiert, stattdessen formuliert Wilson hier eine Art Hommage an Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“. „Es geht um einen Mann, der den Teufel zu einem Wettsaufen herausfordert. Und es ist wohl ziemlich klar, dass man gegen den Teufel eigentlich nie gewinnen kann, was dieser Mann dann auch begreifen muss…“ Worum es ebenfalls nicht geht, wie man angesichts des Titels und Stevens bestens dokumentierter Meinung zu dem Thema vermuten könnte, ist Religion. Läge nahe, schließlich neigen diverse glaubensbefeuerte Eiferer zu fast rauschhafter Selbstgerechtigkeit. Genau das sieht Steven als eines der größten Probleme der heutigen Zeit. „Ich bin der Meinung, dass der Instinkt, ein guter Mensch zu sein, uns allen innewohnt. Wir kennen tief im Inneren alle den Unterschied zwischen gut und böse, richtig und falsch. Organisierte Religion dagegen versucht, uns genau das zu nehmen. Sie verspricht uns etwas im Gegenzug für Gehorsam und nimmt uns die Fähigkeit, eigenständig zu denken. Und aus diesem blinden Gehorsam entsteht der Wille, im Namen des Glaubens Böses zu tun. Ich finde es ziemlich erstaunlich, dass darauf noch immer so viele Menschen herein fallen.“
An dieser Stelle endet das Interview, Steven muss zum Flughafen, raus in diese mittlerweile in Dunkelheit getauchte Kälte. Die Spukgeschichten auf THE RAVEN THAT REFUSED TO SING (AND OTHER STORIES) passen perfekt in diese Stimmung, nicht etwa als Gänsehautlieferanten zur klimatisch wie optisch manifestierten Winterdepression, sondern vielmehr als ätherischer Kontrapunkt. Ob die furiosen drei Akte des Openers ›Luminol‹ oder die kompakte Wucht des gerade mal fünfminütigen ›The Pin Drop‹, Steven Wilsons Klanglandschaften sind wie ein Expressticket in eine andere Welt, eine andere Daseinsebene, in der Genres, Instrumente, Egos und feste Schemata keinen Belang mehr haben. Wie sein Idol Frank Zappa lebt er Musik mit jedem Atemzug, jedem elektrischen Impuls, der seine Synapsen verbindet, jedem Pulsschlag. Die perfekte Balance aus Herz, Seele und Begabung – wenn jemand sie gefunden hat, dann er.