MOVING PICTURES war die Platte, die nie hätte sein sollen. Geddy Lee und Alex Lifeson von Rush erinnern sich an wütende Meuten, außer Kontrolle geratene Flugzeuge und Superman in der Geschichte hinter dem enorm erfolgreichen Album, das den Klang der Rockmusik Anfang der 80er definierte. (Text: Philipp Wilding)
Es ist still da draußen. Oder war es zumindest. Das Anwesen des kanadischen Country-Sängers Ronnie Hawkins blickt auf den Stoney Lake, ein Idyll in Peterborough County in Zentral-Ontario. Die Oberfläche des Sees ist wie Glas, dunkel und so unbewegt, dass es aussieht, als könnte man darauf ans andere Ende laufen. Auf dem Gelände steht auch eine dunkle Holzscheune, abseits des Hauptgebäudes mit seinem Erker, der auf die zackigen Silhouetten der Tannenbäume vor dem Himmel schaut. In der Scheune rumpelt und scheppert es zu jeder Tages- und Nachtzeit, und die
frenetischen Songwriting-Sessions, die dort stattfinden, schreiten in Wellen voran, während die Augustnachmittage verstreichen. Doch es sind nicht die jaulenden Gitarren, der donnernde Bass und die schwindelerregenden Trommelparts, die an jenem Nachmittag die Vögel im nahen Wald verwirren, sondern das seltsame, unablässige Dröhnen über ihnen, ein vorbeisausender Wirbel aus Propellerblättern und einem kleinen Motor, der klingt, als würde er jeden Moment stottern, absterben und abschmieren. „Alex [Lifeson] war damals besessen von Modellflugzeugen“, erzählt Geddy Lee mit gespielter Genervtheit. „Und Broon [Produzent Terry Brown] hatte das dümmste Flugzeug, das du je gesehen hast.“ „Ich habe gerne ein Hobby, während wir arbeiten“, sagt Lifeson.
Er grinst, als hätte er den Flieger immer noch unterm Arm geklemmt und würde damit zu einem erhöhten Punkt laufen, um ihn in die Lüfte steigen zu lassen. „Ich hatte ein ferngesteuertes Flugzeug, das ich dort zusammengebaut habe und das dann auf dem Dach eines Trucks abstürzte“, erinnert er sich. „Vielleicht war es sogar Broons Truck? Wumms, direkt ins Dach der Kabine, es hinterließ ein Loch im Blech. Aber du hättest Terrys Flieger sehen sollen. Der war an Kabeln verankert und flog einfach nur im Kreis. Der Motor hatte wahrscheinlich 12.000 PS und er erreichte 1.500 km/h – aber nur im Kreis.“ Lee: „Er flog immer schneller und Terry hing daran und ihm wurde immer schwindliger …“ Lifeson: „Und dann musste er ihn loslassen. Er drehte sich immer weiter und ich lachte so viel, dass ich mich ins Gras legen musste. Ich lachte Tränen.“ Lee: „Ich stand nicht weit von ihm. Als das Ding dann abhob, musste ich mich verziehen! Dieses Flugzeug, das mit Kabeln an Broon hing – na ja, irgendwann musste es wieder runterkommen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Es sah großartig aus. Diese Songwriting-Sessions machten viel Spaß, die Stimmung war sehr gut.“ Lifeson: „Solange man nicht meinen oder Broons Flieger an die Birne bekam …“ Willkommen bei den Sessions zu einem Album, das nicht nur Rush definieren sollte, sondern auch die Rockmusik der frühen 80er: MOVING PICTURES.
Es ist 2022. Alex Lifeson und Geddy Lee sitzen in ihren Häusern in Toronto, der Stadt, in der sie einander einst als unbeholfene Teenager mit dem Ehrgeiz, eine Band zu gründen, kennenlernten. Lee ist in seinem Wohnzimmer, Lifeson in seinem Heimstudio mit lauter Gitarren an der Wand hinter ihm. Selbst bei einem Zoom-Interview ist diese Energie, die sie seit mehr als 40 Jahren als Freunde und Kollegen zusammenhält, eindeutig spürbar. Sie sind mal nachdenklich, mal vergesslich, mal tief konzentriert, mal einfach nur albern, wenn es um die Erinnerungen an jenen Sommer geht. Oder die Aufnahmesessions im folgenden Herbst und Winter, aus denen dann die Platte hervorging, die sie zu Platin-Rockstars machte und ihre Livesets dominierte, bis Rush sich 2015 schließlich zur Ruhe setzten. Der Terminplan aus Songwriting, Aufnahmen und Touren war an dem Punkt ihrer Karriere so hektisch, dass sie sofort nach dem Schreiben von MOVING PICTURES ihr Equipment zusammenpackten, Lifesons Flugzeug aus einem Baum pflückten und ein paar Shows spielten, bevor sie ins Le Studio in der Nähe von Morin-Heights einzogen, um das Album auf Tonband zu bannen. Wer das Glück hatte, einen dieser Auftritte im September 1980 zu erleben – es waren nur 16 –, konnte die Live-Premiere zweier brandneuer Stücke bezeugen: ›Tom Sawyer‹ und ›Limelight‹.
„Wir haben sie bei den Konzerten gespielt?“, fragt Lifeson. „Wirklich?“ „Um sie aufzuwärmen“, antwortet Lee. „Wie kann es dann sein, dass ›Tom Sawyer‹ im Studio am schwersten einzufangen war?“, entgegnet Lifeson. Willkommen in Le Studio, dessen Name heute untrennbar mit Rush in Verbindung gebracht wird. Sie nahmen sieben Platten dort auf, von PERMANENT WAVES (1980) bis COUNTERPARTS (1993). Am Lake Perry gelegen, am Fuße der Laurentinischen Berge, kann man verstehen, warum die Gruppe sich von dem Ort angezogen fühlte. „Er liegt wirklich mitten in dieser großartigen Landschaft Kanadas“, so Lee. „Ein magischer Ort“, erinnert sich Lifeson. „Aber auch praktisch – man konnte in fünf Stunden nach Hause fahren. Und das Haus und die Aussicht …
Wir hatten einen Volleyballplatz draußen, direkt am See, und im Sommer grillten wir. Jedes Mal, wenn wir dort arbeiteten, zogen wir wieder in die Zimmer, die wir als ‚unsere‘ betrachteten. Es hatte diese warme Vertrautheit.“ Im Sommer: Grillen, Ruderboot- oder Kanufahren auf dem See. Im Winter: Schneeschuhwandern oder Skifahren. „Und man darf nicht vergessen“, sagt Lee, „dass wir in Europa aufgenommen hatten, bevor wir für PERMANENT WAVES Le Studio entdeckten, und plötzlich waren wir in diesem wunderschönen Aufnahmeraum mit diesen riesigen Fenstern und dieser unfassbaren Aussicht – der See, die Berge – und hauten ›Freewill‹ oder was auch immer raus.