… oder wie Don Henley einen Song von Tom Pettys Ausschuss-Stapel in eine generationenübergreifende Hymne über verlorene Unschuld verwandelte
Die frühen 80er-Jahre waren für Don Henley eine Zeit der Ungewissheit. „Ich spürte enormen Druck. Nicht unbedingt, den Erfolg der Eagles zu wiederholen sondern einfach, ohne sie zu schreiben und aufzunehmen“, sagt er im exklusiven Interview mit CLASSIC ROCK. „Ich hatte nie in Betracht gezogen, eine Solokarriere zu haben, also fühlte ich mich orientierungslos, wie in der Schwebe.“ Nach der Auflösung der Eagles 1980 hatten alle Mitglieder Soloprojekte in Angriff genommen. Henleys Debüt I CAN’T STAND STILL von 1982 schien ein vielversprechender, wenn auch zaghafter erster Schritt. „Ich denke, es war ein passabler erster Versuch“, sagt er. „Rückblickend betrachtet sind ein paar der Lieder nicht gut gealtert, aber das trifft auf alle meine Alben zu.“ Um die Zeit, als Henley 1983 Material für den Nachfolger zu sammeln begann, fing die Drum-Maschine langsam an, den Klang der Musik neu zu definieren. „Ich hatte gemischte Gefühle gegenüber den neuen elektronischen Instrumenten“, gibt er zu, „aber Danny [Kortchmar, sein Post- Eagles-Kreativpartner] kannte sich mit all diesem modernen Equipment aus und wollte es unbedingt in unseren Schreib- und Aufnahmeprozess einbeziehen.“ Henley konnte da noch nicht ahnen, dass ein LinnDrum-Gerät, das sich Mike Campbell, der Gitarrist von Tom Petty & The Heartbreakers, zugelegt hatte, seine Solokarriere in neue Höhen führen würde. Auf seinem YouTube-Kanal erinnerte sich Campbell daran, wie seine ersten Experimente damit den Track ›Boys Of Summer‹ inspirierten. „Ich blieb die ganze Nacht wach und tippte Tamburine, Claps und Snares ein. So setzte ich einen kleinen Rhythmus zusammen, und dann ersann ich diese Melodielinie auf dem Keyboard.“ Campbell fügte Gitarre und Bass hinzu, dann spielte er eine Woche später Tom Petty und dem Produzenten Jimmy Iovine sein Demo vor. Die lehnten es aber als möglichen Heartbreakers-Song ab, weil es „zu jazzig“ war. Campbell stellte das Band zunächst ins Regal. Henley und Campbell sind sich nicht einig darüber, wie sie sich zum erstenmal begegneten, doch Campbell erinnert sich daran, eine Kassette des Tracks zu Henley nach Hause mitgebracht zu haben. „Wir saßen an gegenüberliegenden Enden eines langen Tisches und er legte das Tape ein. Er wippte weder mit dem Fuß noch bewegte er seinen Kopf. Er saß einfach nur da, mit verschränkten Armen, und hörte sich das ganze Stück an. Ich dachte, er hasst es. Dann sagte er: ‚Okay, ich werde sehen, was ich damit machen kann.‘ Und ich ging wieder.“
Henley erzählt: „Die Leute, mit denen ich arbeite, werden dir sagen, dass ich nicht sehr kommunikativ bin, zumindest bis die meisten Teile an Ort und Stelle sind. Ich mochte die Percussion, die Mike mit den Maschinen geschaffe hatte. Ich mochte die Gitarrensounds und die Synthesizer-Linien. Alle Schichten verschmolzen zu einer Textur, die wirklich eindrucksvoll war. Es brauchte nur ein wenig Arrangement. Sobald ich herausgefunden hatte, was wohin gehörte, begannen Melodie und Text ziemlich schnell zu fließen.“ ›The Boys Of Summer‹ ist der Titel eines Bestseller-Buchs von Roger Kahn von 1972 über Baseball. Doch Henleys Titel bezog sich auf etwas, das viel weiter zurücklag. „Obwohl ich ein Baseballfan bin, hatte ich nie von diesem Buch gehört. Meine Inspiration kam aus dem Gedicht von Dylan Thomas, das so beginnt: ‚I see the boys of summer in their ruin.‘“ Henleys Text sehnte sich mit ähnlichem Schmerz nach verlorener Unschuld und Jugend. Hat er ihn für eine bestimmte Person geschrieben? „Bei einigen meiner Lieder ist das so, aber nicht bei diesem. Unabhängig von der Inspiration oder der Muse versuche ich, die Themen universell zu halten. Es ist am besten, wenn Songs ein gewisse Uneindeutigkeit haben.“ In der letzten Strophe brachte die denkwürdige Zeile „Out on the road today I saw a Deadhead sticker on a Cadillac“ eine ganze Generation auf den Punkt – und die Art und Weise, wie sie ihre hoffnungsvolle Vision vergeudete. „Es war ein Geschenk“, sagt Henley. „Es kam von diesem mysteriösen Ort, von dem manchmal Texte kommen. Ich hatte Probleme mit dem Brückenteil, konnte die Worte nicht finden, die Melodie. An einem Nachmittag fuhr ich auf der Interstate 405 dahin, irgendwo südlich des Sunset Boulevard, und der Track lief laut in der Anlage. Ich schaute nach links und da war er: ein Cadillac Seville von 1979 mit einem Deadhead-Aufkleber am Heck. Es erschien mir einfach ironisch, paradox, mit einem Hauch von Nostalgie. Und die Zeile passte perfekt in den Song.“
Bei der Arbeit im Record One Studio in Los Angeles stellte Henley eine Gruppe von erstklassigen Musikern zusammen, darunter Kortchmar, Steve Porcaro und Campbell an der Gitarre. Künstler haben öfter mal Schwierigkeiten damit, sich von Demos zu lösen (man bezeichnet das als „Demo-itis“), und auch Henley war zunächst entschlossen, Campbells Track mit all seinem eigenwilligen, beiläufigen Charme zu reproduzieren. „Mike ist einer dieser Typen, die nicht gerne dasselbe zweimal machen“, sagt Henley. „Und ich bin das Gegenteil davon. Wann immer mich ein Musikstück berührt und dazu inspiriert, Text und Melodie zu schreiben, will ich, dass jede Neuinterpretation dieses Stücks ein Klon dessen ist, was mich beim ersten Mal bewegte.“ Während sie den Track überarbeiteten, traten technische Probleme auf – eine Störung im Speicher der LinnDrum, eine Fehlfunktion des analogen Bandes, die sorgfältiges Kleben und Einfügen erforderte –, doch letztlich bekamen sie es hin. Dann entschied sich Henley, die Tonart zu ändern. „Danny hat mich immer dazu gedrängt, jedes Lied in einer möglichst hohen Tonlage zu singen“, verrät er. „Er glaubte, dass auf diese Weise mehr Emotionen übermittelt werden, dass es wirkungsvoller ist.“ Also gingen sie zurück ins Studio, um wieder die „Magie des ersten Durchlaufs“ einzufangen. „Mike schien davon nicht begeistert, aber er machte seine Sache sehr gut“, so Henley. ›The Boys Of Summer‹ erschien im Oktober 1984 als erste Single seines zweitem Albums BUILDING THE PERFECT BEAST und ging sofort durch die Decke: Platz fünf in den USA, Platz zwölf in Großbritannien und Platz 18 in Deutschland. Das düstere Schwarz-Weiß-Video von Jean-Baptiste Mondino half dabei nicht unwesentlich. „Er ist der einzige Videoregisseur, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, der sich Zeit nahm, um mit mir über das Lied zu sprechen.“ Der Clip landete weltweit in der Heavy Rotation und räumte bei den MTV Video Music Awards 1985 ab. Für Henley bleibt sein bekanntestes Stück „eines der besten, die ich mitgeschrieben habe“. „Der Song ist jetzt fast 40
Jahre alt. Eine weitere Erinnerung daran, dass das Leben kurz ist, aber sehr breit.“ (Aus CLASSIC ROCK #128)