Gedanken über das Konzert, das Geschichte schrieb.
Kurz bevor die Rolling Stones im Dezember ihr neues Studioalbum BLUE & LONESOME veröffentlichen, ist nun mit HAVANA MOON das Filmdokument ihres Gastspiels auf Kuba erschienen – selbst in der langen Chronik der unverwüstlichen Rockveteranen zählt das Konzert vom 25. März 2016 zu den legendären Höhepunkten.
Wenn auf Kuba alte Männer Musik machen, horcht die Welt auf. Und sie tanzt. Das war vor 20 Jahren so beim Buena Vista Social Club und ist im Frühjahr 2016 nicht anders, als die Rolling Stones dort ein historisches Konzert geben. Manch friedlichem Bewohner mögen die Wochen davor wie eine Invasion vorgekommen sein: Hunderte von Gringos und 60 Container mit 500 Tonnen Ausrüstung landeten in der Hauptstadt Havanna. Volle 21 Tage und Nächte waren die Invasoren anschließend damit beschäftigt, an der südlich des Zentrums gelegenen Avenida de la Indepedencia eine gewaltige Bühne zu errichten. Als sie am Karfreitag, dem 25. März, endlich fertig sind, kann es ihr Werk in Sachen Prunk und Ausmaß locker mit dem Kapitol in Havannas Innenstadt aufnehmen – es ist angerichtet für die „Greatest Rock’n’Roll Band on Earth“.
Tausende haben schon die Nacht vor dem Großereignis auf dem Gelände des Ciudad Deportivo verbracht. Jeder will dabei zu sein und einen guten Platz für das bevorstehende Spektakel ergattern. Vier Wochen zuvor, am 1. März, hatte die Band den Termin offiziell verkündet. Die „Generalprobe“, der Staatsbesuch des US-Präsidenten Barack Obama eine knappe Woche zuvor (von der Presse scherzhaft als „Support Act“ bezeichnet), war ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Am Tag der Tage jedoch bricht unter dem Ansturm der runden Million Fans in der kubanischen Hauptstadt zusammen, was zusammenbrechen kann. Zuerst, bereits gegen Mittag, der öffentliche Verkehr. Wer etwa auf die Idee gekommen ist, sich im Taxi zum Ort des Geschehens kutschieren zu lassen, sieht sich schon bald und noch meilenweit entfernt vom Fahrtziel eingekeilt zwischen Hunderten stillstehender Karossen. Kein Durchkommen. Rund die Hälfte der Menschen, die sich im Laufe des Tages aufgemacht haben, um die Stones zu sehen, bekommen sie dann am Abend freilich allenfalls zu hören. Ein dumpfes Bollern und Rumpeln irgendwo am Horizont – der Partystimmung tut das keinen Abbruch. Auch der Umstand, dass das schwachbrüstige kubanische Mobilfunknetz schon am Nachmittag rund um das alte Sportstadion den Geist aufgegeben hat, stört die Wenigsten. Kubaner können schließlich nicht nur feiern, sie verstehen sich auch bestens aufs Improvisieren. Und sie alle wissen: Dieser Tag wird in ihrem Leben und auch in der Geschichte ihres Landes einzigartig bleiben. Sehen kann man das in ihren Gesichtern. Weißbärtige Senores, Senoras mit Zigarettenspitze, junge HipHopper und mandelhäutige Latinas, jeder trägt ein euphorisches Leuchten in den Augen.
Für HAVANA MOON pflückte Regisseur Paul Dugdale diese Gesichter aus der Menge, montierte sie zwischen die pulsierenden Gitarrenriffs und den ruhelos umherflatternden Jagger. So geriet der 110-minütige Konzertfilm zum liebevollen Protokoll einer Begegnung, die kurz zuvor noch unmöglich erschien und nun ihren Subtext der Freude offenbart: ein Lächeln, das eine Zukunft begrüßt, die, obwohl ungewiss, voller Versprechen scheint. O-Ton Mick Jagger zu Beginn des Films: „Ich hab mit vielen gesprochen, und sie haben viel emotionaler reagiert, als ich es für möglich gehalten hätte – einfach weil sie niemals und unter keinen Umständen für möglich gehalten hätten, das so etwas geschehen könnte.“ Aber es geschah: Zwei Stunden Budenzauber nach allen Regeln der westlichen Entertainment-Kunst. Und das von den Stones, immerhin oberste Lordsiegelbewahrer sämtlicher mit der Idee des Rock’n’Roll verbundenen Werte. Mehr Liberalisierung geht nicht. Nicht auf dieser Insel, nicht nach fast 60 Jahren Castro-Regime.
Dabei hat die Sache durchaus mehr Ebenen als die zunächst sichtbare, die von der Freude über die Öffnung des Inselstaates gegenüber dem Erzfeind USA kündet. Beide, die Stones und Kuba, schufen mit Fidel Castro, Ché Guevara, Mick Jagger und Keith Richards ikonographische Figuren eines Rebellen-Mythos, der die Popkultur bis heute befeuert. Einst zeigte Kuba den USA den Stinkefinger, die Stones taten dasselbe gegenüber den moralischen Normen des bürgerlichen Establishments. Und beide, Kuba und die Stones, kamen damit durch. Wobei die Stones mit der politischen Rebellion letztlich nur kokettierten und sich ihr Outlaw-Image fürstlich honorieren ließen. Kuba dagegen zahlte die volle Zeche – mit dauerhafter Isolation und bitterer Armut. Nun aber schließt sich der Kreis: Während sich die Insel befreit, sekundieren ausgerechnet die greisen Rockveteranen, deren Subversion lange schon als wohlfeile Hipster-Pose im Pop-Lifestyle westlicher Gesellschaften aufgegangen ist. Den aber kennen Kubaner nur vom Hörensagen. Der alte Schlachtruf „I can’t get no!“ fällt da also auf fruchtbaren Boden – wie auf einem Plakat zu sehen, macht sich die herausgestreckte Zunge auch im Antlitz von Ché Guevara bestens: Hasta la victoria siempre!
„Die Stones können Dinge tun, die Regierungen nicht tun können“, merkte Keith Richards an. Wohl wahr, Musik überwindet Grenzen, auch im Wortsinne. Jeder Kubaner schließlich kennt die alten Hymnen, die Jagger & Co. an diesem Karfreitag noch einmal auf die Bühne bringen: ›Honky Tonk Women‹, ›It’s Only Rock’n’Roll‹, ›Paint It Black‹, ›Angie‹, ›Brown Sugar‹ und natürlich ›Satisfaction‹, das als letzte Zugabe in Havanna ob seiner Symbolkraft frenetisch gefeiert wird (u.a. ›Tumbling Dice‹, ›Start Me Up‹ und ›Miss You‹ fielen im Film der Schere zum Opfer).
Der Abend, und damit auch Dugdales Film, strotzt vor bildstarkem Symbolismus. Mancher mag das für platt halten, dennoch ist es der angemessene Ausdruck eines historischen Moments. Am Ende ist es eben doch nicht nur Rock’n’Roll – es ist die gute alte Zunge und ihr subversives Werk.
Auch wenn Jagger, Richards, Watts und Wood den Lauf der Geschichte nicht eigenhändig geändert haben: Mit bemerkenswertem Instinkt waren sie zum rechten Zeitpunkt am richtigen Ort. Und nie hat man bei einem Rolling-Stones-Konzert so viele entblößte Zahnreihen gesehen. Auch auf der Bühne. Wie gesagt: Wenn auf Kuba alte Männer Musik machen… Und Vollmond war auch.
HAVANA MOON erscheint in mehreren Formaten, ist als DVD, BluRay, DVD-/2-CD-Set, DVD-/3LP-Set sowie als aufweädige Deluxe Edition mit 60-seitigem Hardcover-Buch erhältlich.
8/10
The Rolling Stones
HAVANA MOON
Universal