Lange Zeit verstummte eine der grossartigsten stimmen des deutschen Rock. enttäuscht hatte Michael Kiske sich vom Musikgeschäft abgewandt. Jetzt hat er wieder Spass am singen, was er etwa auf dem neuen Album von Place Vendome beweist.
Text: Henning Richter
Zwanzig Jahre ist es her, dass Helloween sich von ihrem Sänger Michael Kiske trennten. „Eigentlich war das eine beschis- sene Zeit“, resümiert der Hamburger. „Danach habe ich drei Jahre keine Musik mehr gemacht und nur Bücher gelesen. Mein erstes Solo- Album INSTANT CLARITY kam dann 1996 her- aus.“ Ohne Band-Verpflichtungen las der gefeuerte Vokalist insbesondere Werke über Philosophie und Anthroposophie, die von Rudolf Steiner begründete spirituelle Weltanschauung. Bis dahin war der heute 45-Jährige Frontmann einer der erfolgreichsten deutschen Melodic Metalbands gewesen. Mit Helloween sang Kiske u.a. die beiden Klassikeralben KEEPER OF THE SEVEN KEYS PART 1 (1987) und PART 2 (1988) ein, deren Hits die Band heute noch spielt.
Finanziell überbrückte Kiske die dreijährige Aus- zeit dank seines Solo-Vertrags mit der japanischen Plattenfirma JVC, die ihm Geld für kommende Solo-Platten vorschoss. Kiske hat keinen anderen Beruf gelernt, eine Lehre zum Stahlschlosser brach er nach sechs Monaten ab. „Damals war ich froh, dass das Angebot von Helloween kam. Ich wollte eigentlich nie etwas anderes machen als Musik.“
Nach der Trennung von den „Kürbisköpfen“ entwickelte Kiske ein sehr kritisches Verhältnis zum Heavy Metal, dessen Engstirnigkeit, Spießertum und Satanismus er entschieden ablehnte. Auf seiner Internetseite www.geisteskind.de veröffentlichte er dazu den Aufsatz „Der Spießer“, der in der Metal-Szene heftig diskutiert wurde. „Ich hatte viele negative Erfahrungen gemacht, es hatte sich einiges aufgestaut. Mittlerweile sehe ich den Metal nicht mehr so extrem“, beruhigt der Elbstädter. „Inzwischen bin ich wieder mit Fans in Berührung gekommen, das ist eine ganz andere Welt. 95 Prozent der Heavy-Metal-Fans sind total harmlos und äußerst liebenswert. Die meisten nehmen Satanismus nicht ernst, für sie ist das nur pubertärer Zirkus…“
Beim Wiedereinstieg Kiskes in die Rockszene spielte Tobias Sammet eine wichtige Rolle. Der Frontmann von Edguy und Avantasia sprach den verehrten Kollegen im Jahr 2000 an. „Mit Tobias komme ich gut aus. Das ist ein Typ, den ich verstehe, der ist mir in vieler Hinsicht ähnlich. Er ist ein guter Freund von mir geworden. Er hat mich überredet, bei Avantasia mitzumachen, obwohl ich damals mit dieser Art Musik nichts mehr zu tun haben wollte,“ erinnert er sich. Auf dem ersten Avantasia-Album THE METAL OPERA (2001) nutzte Kiske den Künstlernamen Ernie, auf späteren Werken sang er unter seinem wahren Namen.
Kurz darauf sprach ihn Serafino Perugino vom italienischen Label Frontiers Records an. „Er fragte mich, ob ich Bock hätte, eine AOR-Platte einzusingen. Er zog Vergleiche zu Journey und Foreigner. Das erste Album PLACE VENDOME (2005) klang sogar nach Heavy Metal, das neue THUNDER IN THE DISTANCE klingt tatsächlich nach AOR“, urteilt Michael. „Plötzlich merkte ich, es macht mir Spaß, Rock zu singen. Ich wollte mir von den negativen Seiten des Metal und des Musikgeschäfts nicht den Spaß am Rock‘n‘Roll verderben lassen.“ Der Name des Projekts Place Vendome habe keine Bedeutung, informiert Kiske, „das ist ein runder Platz in Paris.“ Genauer gesagt ist es einer der fünf „königlichen Plätze“ von Paris und liegt inmitten der Stadt zwischen der Pariser Oper und dem Tulierengarten im 1. Arrondissement. „Bei Place Vendome steuere ich nur den Gesang bei. Serafino hat die Musiker ausgesucht. Irgendwann kam Den- nis Ward (Pink Cream 69, Unisonic) als Songwriter, Gitarrist und Produzent dazu. Für die neue Scheibe haben wir Stücke von Autoren außerhalb der Band ausgewählt.“
Vendome steuere ich nur den Gesang bei. Serafino hat die Musiker ausgesucht. Irgendwann kam Dennis Ward (Pink Cream 69, Unisonic) als Songwriter, Gitarrist und Produzent dazu. Für die neue Scheibe haben wir Stücke von Autoren außerhalb der Band ausgewählt.“ Die brandneue Place Vendome, THUNDER IN THE DISTANCE, findet Kiske ausgesprochen gelungen, „viel besser als ich anfangs vermutet hatte. Die Demos waren sehr rough, doch im Endeffekt entpuppten sie sich als richtig gute Nummern. Ich habe mich mit dem Gesang beschäftigt und mich gefragt: Wie setze ich das in Szene? Hervorheben muss man besonders die Keyboards von Günter Werno, seine Tastenmelodien haben die Stücke endlos aufgewertet. Die neue Scheibe enthält AOR, aber der klingt erstaunlich frisch und glaubwürdig.“ Eine Bühnenpräsentation des Materials ist nicht geplant. Dabei hat Kiske wieder richtig Spaß am Live-Auftritt. „Inzwischen bin ich mit mehreren Projekten wieder um die Welt getourt.“ Darunter waren auch Tobias Sammet und Avantasia. „Da kam ein unheimlich großes Feedback von den Fans, die vielfach genau so jung und begeisterungsfähig sind wie damals bei Helloween. Wir sind in Wacken aufgetreten und durch Südamerika und Japan getourt. Unglaublich, was passiert, wenn plötzlich die ganz Halle deinen Namen singt! Da kannst du nicht anders als dich im Herzen versöhnen. So heilen viele Wunden und am Ende bleibt nur noch das übrig, was richtig, objektiv und gut ist.“ Im Zuge der Tourneen traf er auch auf die früheren Kollegen von Helloween, mit denen er sich aussprach, ,, ich hege keinen Groll mehr, das kann ich sagen“, so Michael. Inzwischen ist Michael Kiske gefragter denn je, nicht umsonst spricht er von „meinen besten Jahren“. Neben Place Vendome und Avantasia ist er Frontmann von Unisonic, an der Seite seines früheren Helloween-Kollegen Kai Hansen (g) und dem bereits erwähnten Dennis Ward (b). Dazu hat er ein Projekt mit der Sängerin Amanda Somerville, das ebenfalls von Frontiers-Chef Serafino Perugino initiiert wurde. „Egal, wo ich hinkomme, immer wieder halten mir Fans das KISKE/SOMERVILLE-Album zum Signieren hin, immer kommt die Frage: ,Macht ihr noch eins?‘ Es gibt Leute, die diese Musik hören wollen. Also werde ich das Projekt weiter- führen.“
Außerdem plant der vielseitige Mikromann ein Werk mit seinem Freund, dem Gitarristen Sandro Giampietro. „In den letzten Jahren hat er bei Helge Schneider gespielt. Er ist mit Abstand der beste Gitarrist, den ich kenne. Mit Sandro bin ich menschlich auf einer Wellenlänge. Es wird ein Rockalbum, das kann ich schon mal verraten.“
Ansonsten überarbeitet er die zahlreichen Aufsätze seiner Webseite www.geisteskind.de, „ich habe sie von Polemik und Spitzen befreit. Es gibt einen Verlag, der sie in Buchform herausbringen will“, informiert der Junggeselle, der keine Kinder hat. Kiske steckt voller Tatendrang, „meine Stimme klingt heute viel besser als früher. Heute weiß ich, Musik muss etwas zu erzählen haben. Sie muss Ecken, Kanten, Krisen erlauben und diese künstlerisch ausdrücken, so dass die Leute sich etwas aus ihr ziehen können.”