Crües Fronter reanimiert mit Covern die Achtziger.
Paris Hilton hätte ihre helle Freude an ihm, und Mick Jagger wäre vor 25 Jahren sicherlich gerne mit ihm um die Häuser gezogen: In den 80er Jahren war Vince Neil der stürmischste Partylöwe des Rock’n’Roll. Nach wilden Orgien wurden Groupies vom omnipotenten Lendenkönig gleich massenhaft über die Bettkante gezogen oder aber – wenn die Libido allzu stark zwickte – auch schon mal gleich an Ort und Stelle verarztet. Sein ungestümes Temperament führte allerdings auch zu einigen Tragödien: 1984 verursachte er in Los Angeles unter starkem Alkoholeinfluss einen Verkehrsunfall, bei dem – neben zwei Schwerverletzten – der Hanoi Rocks-Drummer Razzle ums Leben kam. Neil wurde zu einem kürzeren Gefängnisaufent-halt und einer saftigen Geldstrafe verurteilt.
Seiner Karriere tat dieser Vorfall keinen Abbruch: Fünf Jahre nach dem folgenschweren Unfall standen Mötley Crüe mit ihrem Album DR. FEELGOOD wieder auf dem Gipfel des Olymps, es folgten ausverkaufte Tourneen, massenhaft Platinauszeichnungen und noch mehr willige Frauen. Kein Wunder also, dass der Mann an die frühen Jahre seiner Laufbahn die blühendsten Erinnerungen hat: „Wir saßen oft in Tommy Lees Cabrio, kurvten über den Sunset Strip und hörten dabei ›Another Piece Of Meat‹ von den Scor-pions oder ›Nobody’s Fault‹ von Aerosmith“, schwelgt Neil in Nostalgie.
Einige dieser Rockklassiker hat der mittlerweile in die Jahre gekommene Womanizer jetzt für sein drittes Solowerk TATTOOS & TEQUILA aufgenommen. Es sei das ultimative Party-Album, charakterisiert Neil die Scheibe, perfekt zum Autofahren und Abhängen. Neben eben erwähnten Aerosmith und Scorpions findet man hier weitere bekannte Namen wie The Sweet, Sex Pistols, ZZ Top oder auch Elvis Presley und Elton John. „Es sind die Lieblingsstücke meiner Jugend“, erklärt Neil, „zu jedem habe ich eine ganz spezielle Beziehung.“
Eine der Nummern, das vielsagende ›He’s A Whore‹ von Cheap Trick, hatte Neil schon einmal früher im Programm, damals, Anfang der Achtziger, beim Crüe-Vorläufer Rock Candy. „Wir waren jung, eine von vielen Straßenbands aus Los Angeles, die sämtliche Clubs allabendlich abklapperten“, erinnert sich Neil. „Ich hatte auf der Bühne immer eine Kettensäge dabei und kleidete mich wie ein Punk. ›He’s A Whore‹ war quasi die Blaupause für spätere Crüe-Alben wie SHOUT AT THE DEVIL oder THEATRE OF PAIN.“
Kein Wunder also, dass TATTOOS & TEQUILA stilistisch nicht allzu weit von den erfolgreichsten Werken seiner Crüe-Historie entfernt ist. Es sind die gradlinigen Rocksongs, die Neil mag und die in der Tat am besten zu seinem hellen, leicht keifenden Timbre passen. Dennoch, so der eitle Sänger, habe sein neues Soloalbum partout nichts mit Mötley Crüe zu tun. „Natürlich ist die Stimme dieselbe, aber ansonsten gibt es signifikante Unterschiede. Du kannst Mick, Tommy und Nikki alles vorsetzen, Blues, Punk oder Rock – das Resultat klingt automatisch nach Mötley Crüe. Die Songs dieser Scheibe dagegen haben alle einen eigenen Charakter.“
Matthias Mineur