Die Wilson-Schwestern haben im Laufe ihrer Karriere einige Höhen und Tiefen erlebt, sowohl in kreativer als auch in (zwischen-)menschlicher Hinsicht. Nun melden sie sich mit RED VELVET CAR zurück. In CLASSIC ROCK verraten sie zudem, warum sie trotz des Auf und Ab die Bodenhaftung nie verloren haben.
Sie langweilen sich. Wie das eben so ist, wenn man alles erreicht hat – Nummer-eins-Alben, ausverkaufte Hallen, ständiges Schulterklopfen. Doch irgendwann, auf einer der unzähligen, nie enden wollenden Tourneen, ist es dann soweit: Sie haben Bock, so richtig über die Stränge zu schlagen. Ann Wilson und Kelly Curtis, der heutige Pearl Jam-Manager, brechen nachts in die Hotelbar ein, mixen sich eine Wagenladung Drinks und bringen die Jukebox zum Rocken. Nachdem die Flaschen leer sind, geht die Feier draußen weiter: Der Rasenmäher absolviert einen Schnuppertauchkurs im Pool, woraufhin sich das Schmieröl ins Becken entleert. Das saugt sich schließlich in die Teppichböden ein, die eigentlich dazu gedacht waren, die Flure des Etablissement zu verschönern. Das Ende des Spiels: Die Band fliegt in hohem Bogen aus ihren Zimmern und wird sogar von der örtlichen Polizei aus der Stadt hinauseskortiert, ganz wie früher im Wilden Westen. So macht man das eben in den USA, wenn eine Rock-Truppe den Provinzfrieden in Gefahr bringt.
Heute lacht Ann Wilson lauthals, wenn sie sich an die Aktion zurückerinnert. Doch das kann sie auch problemlos – schließlich ist all das bereits über 20 Jahre her. Ende der Achtziger – Heart hatten sich inzwischen von ihren Siebziger-Folkrock-Wurzeln gelöst und zu AOR-Megastars entwickelt – gehörte eine derartige Attitüde ohnehin zum guten Rocker-Ton. Alles musste übergroß und aufgebauscht sein: die Balladen, die Frisuren, die Partys und natürlich auch die Egos. Ann Wilson und ihre jüngere Schwester Nancy hatten den perfekten Sound für dieses Lebensgefühl entwickelt: Die Fans liebten Hymnen wie ›These Dreams‹ und ›Alone‹ – und das, obwohl die beiden Songs mit den früheren Alben der Band, so zum Beispiel DREAMBOAT ANNIE oder LITTLE QUEEN, nur wenig gemein hatten.
Die Euphorie und der Jubel ebbten jedoch bald darauf ab. Die auftoupierten Mähnen der Glam-Rock-Gemeinde fielen jäh in sich zusammen, als die Grunge-Welle über sie hinwegrauschte und alles mit sich riss, was nicht niet- und nagelfest war. Auch die Wilson-Geschwister hatten es nicht leicht: Ihr Ruhm war wie über Nacht fortgespült worden – dennoch hatten die beiden nicht alles verloren. Im Gegensatz zu vielen L.A.-Kollegen mussten sich die Wilsons nicht verstecken, sondern konnten weiterhin stolz auf das Erreichte sein. In ihrer Heimatstadt Seattle nämlich, also ausgerechnet in der Grunge-Hochburg, entpuppten sich nämlich etliche Flanellhemd-Rocker als langjährige Heart-Verehrer. „Das hat uns gerettet“, betont Gitarristin Nancy Wilson. „Denn wir hatten ganz schön damit zu kämpfen, dass wir plötzlich nichts mehr wert waren. Doch dann kamen wir nach Seattle, und alle diese jungen Musiker fanden uns gut, obwohl wir zu dieser Zeit als uncool galten. Jerry Cantrell von Alice In Chains zum Beispiel meinte: ›Oh mein Gott, ihr seid eine so wichtige, einflussreiche Band für mich!‹. Und auf allen Partys, zu denen wir eingeladen waren, wollten die Leute mit uns jammen.“
Und so kam es, dass sich die Wilsons schneller als die meisten ihrer Achtziger-Weggefährten von der Wunde, die Grunge gerissen hatte, erholen konnten. Sie gründeten gemeinsam mit Sue Enis und Frank Cox die Lovemongers, entfernten die falschen Wimpern, die Haarteile und die aufgeklebten Fingernägel und starteten neu: mit Songs, die vor allem auf Akustikgitarren-Melodien basierten. Eine Entwicklung, die Ann heute als „musikalischen Heilungsprozess“ bezeichnet.
Der ist inzwischen längst abgeschlossen, wie die Band in den vergangenen Jahren bewiesen hat. 2004 erschien ihr erstes Studioalbum seit 1993, JUPITER’S DARLING. Darauf folgten ausgedehnte Touren durch die USA. Nun hat die Band, bestehend aus den Wilsons sowie Ben Smith (Drums), Ric Markmann (Bass), Debbie Shair (Keyboards) und Craig Bartock (Gitarre), erneut an neuen Songs gefeilt, die vor wenigen Wochen auf dem Album RED VELVET CAR veröffentlicht worden sind. Heart beweisen darauf, dass sie ihre Lektion gelernt haben. Nicht höher, schnell, weiter ist ihr Motto, sondern die Reduktion aufs Wesentliche. Denn, wie Nancy es ausdrückt, „wir wollten verhindern, dass die Stücke überproduziert werden. Es ist wichtig, die Songs frisch und lebendig zu gestalten. Das geht nur, wenn man nicht lange an ihnen herumfeilt. Uns geht es im Grunde genauso wie einem Maler: Der muss auch genau spüren, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, das Kunstwerk als vollendet anzusehen und mit dem Pinseln aufzuhören.“
Genau so klingt RED VELVET CAR denn auch. Wohlüberlegt und dabei stets unprätentiös. Es gibt auf der Platte keine überbordenden Balladen, keine kleistertriefenden Keyboards, keinen aufgesetzten, theatralischen Gesang. Das wollten die Wilsons so, aber sie hatten auch jemanden an ihrer Seite, der diese Entscheidung unterstützte und in die Tat umsetzte: Ben Mink, der mit Ann bereits an ihrem Soloalbum HOPE & GLORY gearbeitet hatte – ebenso wie für k.d.lang oder Rush. Er fokussierte sich auf die Akustikgitarren-Parts, positionierte sie im Zentrum der Stücke, machte sie also zum Herzstück von Heart. „Wir wollten den Fans auch zeigen, dass wir mehr können als uns in eine coole Pose zu werfen“, betont Nancy. Gerade sie als Gitarristin hat schon des Öfteren die Erfahrung machen müssen, nicht ernst genommen zu werden als Musikerin. „Insbesondere durch die Videos ist bei den Leuten der Eindruck entstanden, dass wir uns nur in Szene setzen, in Wahrheit aber nichts drauf haben“, berichtet sie. „Bei den Konzerten fragten mich etliche Menschen, ob ich denn wirklich spielen könne oder das alles nur vom Band käme. Hätte es unsere Achtziger-Phase nicht gegeben, wäre mir diese Frage sicher nie gestellt worden.“
Doch Nancy kann inzwischen damit umgehen, denn sie weiß, was sie kann. Ebenso Ann, die in der Vergangenheit ebenfalls dafür kämpfen musste, anerkannt und respektiert zu werden. Bei ihr waren es jedoch weniger die Fans, die Zweifel am Talent der Rockerin hatten, als die Produzenten. „Manchmal musste ich mit Typen zusammenarbeiten, die eine komplett andere Vorstellung von unserer Musik hatten als ich. Sie wollten alles ändern. Da habe ich mich schon gefragt, warum die Kerle den Kram nicht einfach selbst eingesungen haben, anstatt mich immer und immer wieder mit ihren seltsamen Ideen zu quälen. Sie wollten mich in ihr vorgefertiges Rock-Schema pressen. Doch das funktioniert nicht – so wird eine Band nicht erfolgreich, sondern lediglich langweilig und austauschbar.“