In nur zwei Monaten spannen die US-Drone-Pioniere EARTH einen Bogen, der 20 Jahre umfasst: erst die Wiederveröffentlichung ihrer allerersten Aufnahmen, dann ein neues Album, das vor allem eins tut – in die Zukunft schauen.
Dylan Carlson ist kein Mensch, der nostalgisch in die Vergangenheit blickt. Es gibt auch nicht so wahnsinnig viel, was bei ihm nostalgische Gefühle auslösen könnte. Eine gewisse notorische Berühmtheit erlangte der 42-Jährige, weil er einst der beste Kumpel von Kurt Cobain war, der 1989 auch mal bei Earth mithalf: beim Song ›Divine And Bright‹, der auf der A BUREAUCRATIC DESIRE FOR EXTRA CAPSULAR EXTRACTION betitelten Wiederveröffentlichung der ersten Gehversuche von Earth enthalten ist. Dylan brachte Cobain damals erst an die Nadel und gab ihm auch die Schrotflinte, mit der er sich das Leben nahm. Ein Kapitel, über das er nicht spricht, weil, so betont er, „alles längst gesagt ist. Ich hatte meine Lebenskrise, als ich jung war. Deswegen lasse ich die Midlife-Crisis hoffentlich aus und muss mir diese Dinge nicht schönreden.“
Dennoch ist die Vergangenheit natürlich Teil seines Lebens: Die Nachfrage nach den Pionieraufnahmen der Band reißt nicht ab. „Auf unserer Tour 2009 sprachen uns am Merch-Stand viele junge Fans an, die die Band erst mit HEX kennengelernt hatten, und fragten nach dem alten Material. Und da das Lizenzabkommen mit unserer früheren Plattenfirma Sub Pop auslief, stand es mir frei, diese Songs so herauszubringen, wie wir es stets vorhatten: als Album, nicht in Form einer EP und eines Haufen Bootlegs.“
Doch Dylan spielt seine Pionier-Rolle – trotz gelegentlicher Kollaborationen mit Drone-Größen wie Sunn O))) – gern herunter. „Ich schäme mich dieser Songs nicht“, betont er. „Aber ich war damals ein anderer Mensch, hatte andere Motive für das, was ich tat. Natürlich gibt es eine oberflächliche Kontinuität bei Earth: Die Songs sind immer noch langsam und eher lang. Aber alles andere hat sich gewandelt. Ich sehe jedes Album als eine Chance, Neues auszuprobieren.“ Die aktuelle „Phase“ von Earth begann 2005 mit dem schon erwähnten Album HEX, einer Art multiinstrumentaler Inszenierung von Neil Youngs Soundtrack zu „Dead Man“. „Das Thema der letzten drei Alben, von HEX über THE BEES MADE HONEY IN THE LION’S SKULL bis zum neuen, ist eine Reise in die Vergangenheit“, erläutert Dylan. „Nicht meine eigene, wohlgemerkt! Aber ich sehe einfach, dass meine Einflüsse immer älter werden. 1990 begannen wir mit Rock und Heavy Metal, dann ging die Reise über Blues, Country & Western und Jazz zu britischem Folk Rock.“
Dass das neue Album ANGELS OF DARKNESS, DEMONS OF LIGHT 1 eine kleine „1“ am Ende trägt, ist kein Zufall. „Wir nahmen zwei Alben während dieser Session auf“, erklärt Dylan. „Der zweite Teil wird wohl Anfang 2012 erscheinen. Er schließt an den letzten Song der aktuellen CD an. Den haben wir, genau wie das gesamte Material für den zweiten Teil, frei improvisiert.“ Genau genommen war nur ein Song fertig, bevor Earth das Studio buchten: ›Old Black‹, der Opener. „Den Rest arbeiteten wir auf einer zweiwöchigen Tour aus, live auf der Bühne“, erklärt Dylan – eine Arbeitsweise, die für ihn vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre. „Damals war ich ein totaler Kontroll-Freak. Heute sind Earth eher ein Kollektiv. Ich habe gelernt, dass es am Ende besser klingt, wenn ich die Leute das tun lasse, was sie lieben.“
Und vor allem hat er gelernt, selbst zu lieben: Nachdem aufgrund von Problemen mit der US-Drogenfahndung jahrelang Misstrauen Dylans Leben beherrschte, hat er bei Earth jetzt, angefangen mit seiner Freundin Adrienne Davies, Menschen um sich geschart, denen er bedingungslos vertraut.