Während Dream Theater-Sänger James LaBrie zurzeit sein neues Soloalbum STATIC IMPULSE vorstellt, hat Schlagzeuger Mike Portnoy unerwartet die Brocken hingeschmissen. Zwei Ereignisse, die bei genauerer Betrachtungsweise durchaus in einem kausalen Zusammenhang stehen.
Die Bombe platzte Anfang September: Schlagzeuger Mike Portnoy hat Dream Theater verlassen. Ein Schock, eine Sensation, eigentlich sogar ein Eklat: Denn was die meisten Fachleute angesichts einer solchen Entscheidung bisher für undenkbar hielten, tritt ein – die Band macht künftig ohne ihren Gründer weiter. Ein Nachfolger ist zwar noch nicht benannt, die Suche läuft aber bereits auf Hochtouren.
Portnoys Split von Dream Theater überrascht deshalb umso mehr, da der Drummer offenbar nicht ganz freiwillig ausgeschieden ist. Und das wiederum weicht vollends vom bisherigen Eindruck der Öffentlichkeit ab, dass in dieser Band keine Entscheidung gegen den Willen ihres Machers getroffen wird. In einer eiligst verfassten Pressemeldung erklärt der Schlagzeuger zwar, dass seine Entscheidung über Monate gereift und beileibe keine Kurzschlusshandlung sei. Was aber in seinem Statement ebenso unmissverständlich deutlich wird: Im Grunde genommen wollte Portnoy die Band nicht verlassen. Sein Wunsch war vielmehr eine längere Pause, um neue Kraft zu tanken und die in Schieflage geratene Stimmung im Dream Theater-Camp wieder gerade zu rücken. Die physische und psychische Belastung, der Dream Theater durch die monatelange Tournee zu ihrem aktuellen Album BLACK CLOUDS AND SILVER LININGS ausgesetzt waren, hat Portnoy offenbar viel Kraft gekostet. Die im Albumtitel erwähnten schwarzen Wolken, die durch den Stress und die Entbehrungen einer Tour aufgezogen sind, überdeckten jeglichen Silberstreif am Horizont.
Um den Krach noch einmal zu verdeutlichen: Portnoy spricht ausdrücklich von einer „dringend notwendigen Pause“, die er sich gewünscht hatte. Doch die wurde von den Herren James LaBrie (Gesang), John Petrucci (Gitarre), John Myung (Bass) und Jordan Rudess (Keyboards) wohl rundweg abgelehnt. „Ich hoffte inständig, dass die Band mit mir darin übereinstimmt, dass wir eine Auszeit brauchen, um die Batterien wieder aufzuladen“, so Portnoy wörtlich. „Doch leider zeigte sich in Diskussionen mit den Jungs, dass sie meinen Eindruck nicht teilen. Sie haben sich vielmehr zu entschlossen, lieber weiterzumachen anstatt einmal tief durchzuatmen.“
Ein wenig klingt das, was Portnoy da erfahren musste, nach einer Racheaktion seiner Bandkollegen. Quasi eine Quittung für das, was er seinen Mitmusikern jahrelang zugemutet hatte. Denn Portnoy führte ein strenges Regiment, dem sich alle – außer Gitarrist und Komponisten-/Produzentenpartner John Petrucci – unterzuordnen hatten. Das sorgte immer wieder für Streitigkeiten. Der Drummer ist nämlich ein Getriebener, ein Perfektionist, der sich und andere über zwei Jahrzehnte bis an den Rand des Erträglichen einpeitschte. Dass ausgerechnet ein solcher Charakter nun um eine Pause bittet, muss den Musikern wie ein schlechter Witz vorgekommen sein. Ganz offensichtlich war keiner gewillt, seinem Wunsch zu entsprechen.
Von Dream Theater selbst gibt es zu dieser Entwicklung nur ein verhältnismäßig kurzes Statement, in dem man Portnoy alles Gute für die Zukunft wünscht und ansonsten sofort zur Tagesordnung übergeht: Nach einem Nachfolger würde gesucht, und ein neues Album wolle man bereits ab Januar 2011 in Angriff nehmen. Viel kühler hätte man den Abgang des Schlagzeugers kaum kommentieren können. Der Graben zwischen Portnoy und dem Rest der Truppe muss am Ende also mächtig tief gewesen sein.
Angesichts dieser Entwicklung rückt die Veröffentlichung von STATIC IMPULSE, dem zweiten Soloalbum von Dream Theater-Frontmann James LaBrie, beinahe in den Hintergrund. Sollte es aber eigentlich nicht, denn die Platte ist dem Sänger enorm wichtig. Seine Solokarriere war für James LaBrie schon lange Jahre ein kreatives Ventil. Wann immer es der enge Dream Theater-Terminkalender zuließ, traf er sich mit seinem Kumpel, dem Gitarristen Matt Guillory, und verfasste eigene Songs. 1999 und 2001 veröffentlichte er unter dem Projektnamen Mullmuzzler zwei bemerkenswerte Scheiben, jetzt folgt mit STATIC IMPULSE der Nachfolger seines Solodebüts ELEMENTS OF PERSUASION. „Es ist gut für Dream Theater, dass wir alle unsere eigenen Projekte haben. So bleibt die Band frisch“, sagt LaBrie und verschweigt dabei galant, dass der ursprüngliche Start seiner Single-Ambitionen gleichzeitig Ausdruck seines handfesten Ärgers auf Portnoy und Petrucci war.
Die beiden waren nämlich, wie bereits erwähnt, zwei Dekaden lang das Hirn von Dream Theater und traten gemeinsam als Komponisten, Arrangeure und Co-Produzenten der meisten Veröffentlichungen in Erscheinung. Zudem legte das Duo die stilistische Direktive fest und entschied auch über Marketing und Finanzen. Und zum Leidwesen von James LaBrie verfassten sie bis dato auch nahezu alle Texte, die er zu singen hatte. Ein recht ungewöhnlicher Vorgang, ist doch in den meisten Fällen der Sänger einer Band auch gleichzeitig ihr Texter – was auch im Sinn von LaBrie gewesen wäre. So wehrte er sich bereits vor einigen Jahren gegen Portnoys Vorwurf, dass er eine zu langsame Arbeitsweise habe: „Wenn ich auf Anhieb einen Bezug zum Song finde, kann ich auch sofort etwas Brauchbares abliefern.“ Am Textmonopol der zwei Dream Theater-Macher änderte sein Einwand jedoch nichts.
Deswegen also die Solokarriere, deswegen im September die Veröffentlichung von STATIC IMPULSE – einem Album, das progressive Versatzstücke mit bitterbösen Metal-Attacken und feinsinnigen Melodien vermischt. Offenbar geht es LaBrie auch darum, sich hier den Respekt seiner Band zu verschaffen: „Meine Kollegen haben mir ausdrücklich gratuliert und das große Potenzial der Scheibe gelobt“, berichtet er stolz. Dabei dürften die Glückwünsche vermutlich keine Lippenbekenntnisse sein, denn das LaBrie-Solowerk gibt durchaus Anregungen, in welche Richtung sich auch die Musik von Dream Theater zukünftig weiterentwickeln könnte.
Für seinen Macher jedenfalls klingt ein zeitgemäßes Heavy-Album so wie STATIC IMPULSE: durchdacht, aber hart. Neben LaBries Gesang ist darauf nämlich auch das derbe Grunzen des schwedischen Schlagzeugers Peter Wildoer zu hören. Dies – so die Meinung des kanadischen Sängers – spiegelt die momentane Metal-Realität wider: hart, wild, kontrastreich und extrem, aber gleichzeitig auch melodisch und progressiv.