Diesmal eher unpolemisch, dafür mit einer tiefen Verbeugung: vor zwei Typen, die 1973 etwas wahrhaft Großes schufen, das in keinem Rock’n’Roll-Haushalt fehlen darf.
Zeiten gab’s! Etwa jene, als man in allerlei periodisch erscheinenden, bunt bebilderten Druckerzeugnissen eine Menge über die Lieblinge der Musik konsumierenden Masse erfahren konnte. Aber eben nur, sofern die Lieblinge aktuell eine „heiße Scheibe“ veröffentlicht hatten oder gerade auf Tournee gingen. Wessen letzte „heiße Scheibe“ vor elf Jahren erschienen war, wer vielleicht sogar als Band schon gar nicht mehr existierte und demnach keine aktuellen Reisetätigkeiten mehr vorzuweisen hatte, war vor allem eines: dem Vergessen nahe. Ausnahmen in der Berichterstattung gab es nur wenige. Doch allzu seriös recherchiert war die „unmittelbar bevorstehende“ Wiedervereinigung eines Liverpooler Quartetts in der Regel leider auch nicht. Wer also wissen wollte, ob es bereits vor den Bay City Rollers oder Wreckless Eric hörenswerte Musik gegeben hatte, musste versuchen, tiefer einzusteigen. Und das gelang am besten mit einer Großtat der Herren Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos: das „Rock-Lexikon“, erstmals erschienen 1973.
Wer in einer eng bedruckten Mailorder-Liste über LOST IN THE OZONE von Commander Cody And His Lost Planet Airmen gestolpert war, erhielt nun endlich Klarheit: Nein, diese Band spielte trotz des durchaus vielversprechenden Namens keinen psychedelischen Space-Rock, sondern bodenständigen Country. Das war gut zu wissen, bevor man die Scheibe bestellte – oder eben doch lieber darauf verzichtete, da Country aus zeitgenössisch subjektiver Teenie-Sicht in etwa so cool war wie Vader Abraham, Badekappenpflicht oder „Telekolleg Mathematik“ im dritten Programm. Vorbei waren dank Fachlektüre auch die Zeiten, als einen ansprechende Cover-Artworks zu erratischen Impulskäufen drängen konnten – erst mal lesen, was das „Rock-Lexikon“ meint, zumal es enorm wichtig war, die durch Zeitungaustragen verdiente Kohle möglichst zielgerichtet zu investieren. Fehlkäufe sorgten für verdammt schlechte Laune.
Es funktionierte aber auch andersrum: Später wurde einiges korrigiert und relativiert, aber in der Erstauflage fremdelten Graves und Schmidt-Joos noch mit allzu derbem Rock’n’Roll-Ethos, vor Iggy & The Stooges wurde regelrecht gewarnt. Was wiederum die Neugier weckte, denn man lernte ja dazu. Die standen offensichtlich eher auf so schöngeistiges Zeug von James Taylor und Joni Mitchell, hatten’s dafür aber nicht so mit Slade und den MC5. Erst mal dechiffriert, konnte man damit umgehen: Die finden’s tendenziell scheiße? Könnte interessant sein! Ihr größtes Verdienst lag aber woanders: Zwar hatte sich herumgesprochen, dass die Stones und Led Zeppelin auf alte Männer stehen, die Muddy Waters oder Willie Dixon heißen, doch weitere Fakten entzogen sich dem potenziell interessierten Neuntklässler. Erst die segensreiche Kombination aus „Rock-Lexikon“ und Flohmarkt auf matschiger Wiese sorgte für stete Erleuchtung. Ersteres machte einen mit Namen wie Bo Diddley, Elmore James, Howlin’ Wolf und Arthur „Big Boy“ Crudup überhaupt erst bekannt, letzterer verschaffte einem die schwarzen Scheiben: In den „Onkel-Tuca“-Bananenkisten, irgendwo zwischen James Lasts NON-STOP DANCING VOL. 136, den größten Erfolgen des Montanara-Chors, Operetten-Melodien und Schlager-Sülze fanden sich auch immer wieder angemessen abgegriffene und bedenklich verknisterte Lo-Fi-Pretiosen für zwei Mark. Tun’s Einsfuffzich auch? Okay! Billiger war musikalische Horizonterweiterung vor der Erfindung des Internets nicht zu kriegen.
Nun mag das alles in Zeiten, in denen einem per Mausklick die komplette Diskographie von Sir Shoobie & The Doobies präsentiert wird, enorm anachronistisch wirken, zumal man sich das Zeug heute auch noch anhören und dann entscheiden kann, ob eine weitere Vertiefung lohnt. Nur muss man dazu erst einmal wissen, dass es eine Band namens Sir Shoobie & The Doobies überhaupt gibt. Was aber leider unmöglich ist, wenn’s niemand gepostet hat oder die Band vom „Das könnte Ihnen gefallen“-Algorithmus sträflich ignoriert wird. Wenn der Homo Digitaliensis also glaubt, dass in der realen Welt nur jene Musik existiert, die mittels Internet verfügbar ist: Irrtum. Es gab und gibt so viel mehr. Da lobe ich mir doch das gute alte „Rock-Lexikon“, auch wenn es trotz einiger Updates natürlich niemals komplett war oder jemals sein wird. Aber man stieß darin immerhin auf real existierende Acts, von denen man noch nie gehört hatte. Okay: Sie können natürlich auch einer spontanen Eingebung folgend und auf gut Glück googeln, ob es auf diesem Planeten vielleicht eine Band namens Sir Shoobie & The Doobies gibt. Dann brauchen Sie auch kein Lexikon. Das Suchergebnis könnte aber ernüchternd ausfallen.