Eleven years after: Nach einhundert Heften wird es aber höchste Zeit, mal über Lady Gagas Köter, Leichen im Keller und klebrige Balladen zu reden. Der Flötenschlumpf fängt an!
Als die erste deutschsprachige Ausgabe dieses formidablen Heftes erschien, lief das natürlich nicht ohne Begleitmusik ab: Uns Überzeugungstätern schallte einerseits wohlwollende Ermutigung, gar echte Begeisterung entgegen, aber eben auch – denn wir leben nun mal in Deutschland – nach DIN-Norm zertifiziertes, mutmaßlich sogar TÜV-geprüftes Bedenkenträgertum. Das klang dann so: Print ist eh total am Ende, Rockmusik tot, begraben und vergessen, und wer beides noch nicht mitgekriegt haben sollte, kann ja auch zur englischen Ausgabe greifen. Okay, wir haben verstanden: Eine vertretbare Auflage erreicht man als Musikmagazin vermutlich nur noch mit aufrüttelnden Nacktfotos von Lady Gagas Bulldoggen. Und aufgrund unseres brillanten Bildungswesens, um das uns bekanntlich seit Jahrzehnten die ganze Welt von Finnland bis Südkorea so sehr beneidet, ahl ze piepel in Tschörmenie schpiek supa Inglisch. Oder zumindest so was Ähnliches. Und wenn nicht, dann haben sie eben Pech gehabt und müssen zur Strafe Schlagermusik oder Deutschrap hören. Sie finden diese Haltung dumm und arrogant? Dann sind wir schon zu zweit!
Wir fassen zusammen: Nach 100 Heften kann man den Schlaubergern und Miesepetern ruhig mal ein beherztes „It’s only Rock’n’Roll, but we like it immer noch“ (für Maus-Fans: das war Englisch, zumindest zum Teil) entgegenschmettern. Und damit stehen wir offenkundig auch heute noch nicht ganz alleine da, wie die schlichte Tatsache beweist, dass SIE gerade DIESES Heft in ihren Händen halten, und eben nicht die jüngste Ausgabe von „Nouveau riche – wohin mit all dem Geld?“ (das war Französisch, zumindest zum Teil), oder dem brandneuen „Manipulation Magic – das Magazin für Influencer“ (das war … ja doch, ist gut jetzt!). Nach 100 Heften wird es aber auch mal höchste Zeit, jene Bands zu erwähnen, die in CLASSIC ROCK niemals vorkommen, weil sie mit dem klassisch rockenden, geschmackssicher-seriösen Selbstbild partout nicht vereinbar sind. Die Versuchung, sich selbst einzureden, man sei als Jimi-Hendrix-Fan auf die Welt gekommen und abe die Bay City Rollers bereits als Zehnjähriger mit tödlicher Verachtung gestraft, ist zweifellos groß. Ob’s auch stimmt, ist eine andere Frage. Denn die Musikindustrie hat ja schon recht früh Einstiegsdrogen für Präpubertierende vertickt, The Monkees etwa, The Archies, all den Bubblegum-Kram der Sorte Ohio Express und nicht zuletzt Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich. Total uncool? Nun ja, das waren Jungs mit elektrischen Gitarren, die ganz anders aussahen und klangen als Roy Black. Immerhin!
Ganz ehrlich: Mit zehn, so um 1975, durften ABBA noch eine diffuse, präerotische Anziehungskraft ausstrahlen, was der dazugehörigen Musik das Prädikat „okay“ einbrachte. Ein Jahr später war’s damit vorbei, was einerseits am unangenehm klebrigen Ausstiegsbeschleuniger ›Fernando‹ lag, andererseits an der Tatsache, dass im Fernsehen zwischenzeitlich alle Beatles-Filme ausgestrahlt worden waren. Natürlich mitgeschnitten mittels Mikrofon und Kassettenrekorder, was übrigens in ausgesprochen bizarren Hörspielen resultierte … „okay, jetzt fahren sie gerade auf den Bahamas mit ihren Fahrrädern im Kreis“ usw. Use your illusion!
Anders als im wirklichen Leben, in dem das Strafgesetzbuch den Ton vorgibt, ist es, metaphorisch gesprochen, doch kein Verbrechen, ein paar lustige Leichen im Keller zu haben. Nur gibt es tatsächlich Leute, die noch heute behaupten, ihre erste selbstgekaufte Platte sei A NIGHT AT THE OPERA gewesen, obwohl es eigentlich ›Ich wünsch mir ne kleine Miezekatze‹ von Loriot war. Seltsam! Nun gut: Wenn man als 15-jähriger Spätzünder – und zwar bar jeder Ironie – noch immer auf singende Zeichentrickhunde gestanden oder sein Zimmer mit Postern von Vader „der Flötenschlumpf fängt an“ Abraham tapeziert hätte, wäre das für Erziehungsberechtigte gewiss ein Grund zur Sorge und für möglichst einfühlsam geführte, klärende Gespräche gewesen. Aber solch tragische Fälle waren sicher die Ausnahme. Deshalb: ein retrospektiver Coolness-Codex für die U-10-Fraktion? I was a punk before you were a punk? Wie albern. Jetzt machen wir uns alle mal gemeinsam locker für die nächsten 100 Hefte und stehen auch zu unseren „guilty pleasures“. Also, ich freue mich noch heute, wenn ABBAs ›S.O.S.‹ im Radio läuft. Cooler Song. Und ›Saturday Night‹ von den Bay City Rollers schreit doch förmlich nach einer glamourösen Cover-Version von The Darkness, oder etwa nicht?