Lange Zeit galt Blues, und das nicht ganz zu Unrecht, als Musik der alten Männern. Auf der Bühne standen Musiker, die seit 40 Jahren die Gitarre nicht aus der Hand gelegt hatten. Das war auf der einen Seite wunderbar, denn in kaum einem anderen Genre ist es möglich, in Würde zu altern und dabei sogar noch mehr Respekt einzuheimsen als in jungen Jahren. Doch natürlich bedingte dies auch, dass Nachwuchstalente es schwerer hatten als in anderen Musikrichtungen. Bis man als Blueser so weit war, dass die Szene anerkennend nickte, brauchte es eine gehörige Portion Durchhaltevermögen.
Text: Hugh Fiedler & Mirko Windmüller
Doch, die Zeiten haben sich ge-ändert. Immer mehr junge Gitarristen entdecken die Stilrichtung für sich – und sie sorgen dafür, dass sich auch das Publikum verjüngt. Speziell in Großbritannien boomt Bluesrock, doch auch hierzulande wird er immer populärer. Und mehr noch: Die Fans werden nicht nur jünger, es mischen sich auch mehr und mehr Frauen unters Blues-Volk.
So hat Oli Brown, mit gerade mal 19 Jahren einer der jüngsten Blues-Shootingsstars, sogar kreischende Mädchen vor der Bühne, wenn er auftritt. Und das, obwohl er von Dance-Pop musikalisch so weit entfernt ist wie Iron Maiden von Jay Z. Thomas Ruf, Eigentümer des deutschen Blues-Labels Ruf Records, hat den Briten unter Vertrag genommen. Und zwar nicht allein wegen seines Spiels – obwohl das über jeden Zweifels erhaben ist –, sondern auch wegen dessen Wirkung auf Teenager. Darauf gebracht haben ihn seine Töchter, die von dem attraktiven Jungen angetan waren, wie Ruf unseren britischen CLASSIC ROCK-Kollegen berichtet hat: „Normalerweise fassen sie keine einzige der CDs an, die bei mir zu Hause rumliegen. Doch auf Oli sind sie sofort angesprungen und haben mich neugierig gefragt: ›Das ist also Blues?‹“
Auch Oli Brown selbst scheut sich nicht, keine Zweifel daran zu lassen, dass er darauf aus ist, eine neue Generation für den Blues zu gewinnen. So hat er etwa in Norfolk einige Konzerte in Schulen gegeben, bevor er schließlich zu einer klassischen Clubshow angetreten ist. Das Re-sultat: Im Publikum des regulären Gigs fanden sich nicht Traditionsblueser, sondern auch rund 40 Jugendliche. „Viele von ihnen hatten noch nie eine Clubshow gesehen“, so Brown. „Dabei ist das die beste Möglichkeit, Blues kennen zu ler-nen, all seine Facetten zu ergründen.“ Ein Ansatz, der sich offenbar auszahlt. Laut Plattenboss Ruf verkauft Oli Brown mehr Musik online als im CD-Format. Dies gilt als sicheres Zeichen, dass ein Großteil seiner Hörer die 30 vermutlich noch nicht überschritten hat.
Ähnliches erlebt auch Joanne Shaw Taylor, 24-jährige Blueserin aus England. Sie hat gerade gemeinsam mit Brown eine Europatour absolviert – und festgestellt, dass die Fans mancherorts deutlich jünger waren, als sie erwartet hätte. „Wir spielten auf einem Festival in Litauen“, erinnert sie sich. „Es waren rund 7.000 Leute dort. Und niemand sah älter als 25 aus! Ich konnte es kaum glauben, dass die Teenies zu 12-Bar-Shuffles ausgeflippt sind! Sie sprangen wie wild herum und kletterten sich gegenseitig auf die Schultern!“
Der Grund für den Erfolgszug des Blues ist ihrer Meinung nach die Authentizität der Musik. Bei ihr selbst waren es die Leidenschaft, das intensive Gefühl, das ihr die Musik nahe brachte – und das, obwohl sie, ähnlich wie die meisten ihrer Generation, anfangs einen völlig anderen Eindruck vom Blues hatte. „Die meisten glauben, dass es Musik ist, die nur alte Männer hören. Daher beschäftigt sich niemand eingehend damit. Erst später, wenn die Leute verstehen, dass einem zum Beispiel im Radio nur etwas Künstliches vorgesetzt wird, beginnen sie sich für den Blues zu interessieren.“
Doch die jungen Blueser sind nicht nur auf der Jagd nach gleichaltrigen Fans – sie wollen auch, wie jede rebellische Generation, Grenzen einreißen. Joe Bonamassa ist, wenngleich er sicherlich kein klassischer Revoluzzer ist, das beste Beispiel dafür. Er hat es geschafft, die Mauer zwischen Blues, Rock, Country und auch Pop einzureißen. Zu seinen Shows kommen Menschen, die ansonsten keinen Fuß in ein verrauchtes Pub setzen würden. Der 32-Jährige bringt sie jedoch dazu, in die Royal Albert Hall zu pilgern. Bonamassa versteht es, sich und sein Gitarrenspiel in Szene zu setzen, ohne dabei überkanditelt zu wirken. Das Bodenständige auch in einer anderen, höheren (Größen-)Dimension zu bewahren, ist neben seinem musikalischen Talent sein größtes Plus.
Und er inspiriert andere dazu, ihm nachzufolgen. Aynsley Lister zum Beispiel, der als Gast bei besagtem Joe Bonamassa-Gig in London war, erkannte dort erst das Potenzial der Stilrichtung für die breite Masse. Der britische Blueser (33) beschloss daraufhin, noch mehr zu wagen und seinen Sound mit musikalischen Experimenten anzureichern. Das Resultat: ein frischer Touch, der seinen Werken hörbar gut tut. Auch live funktioniert das Ganze – und zwar selbst bei älterem Publikum: Im Vorprogramm von Lynyrd Skynyrd beispielsweise hatte Lister bereits am zweiten Tourtag alle mitgebrachten CDs an den Fan gebracht. Das mag Bluespuristen zwar nicht gefallen – doch gerade im Mix mit anderen Stilen liegt momentan offenbar der Erfolgssegen. Eine Zutat kann Country-Pop sein, wie es John Mayer vormacht, aber das Ganze darf durchaus auch dreckig-rau klingen wie bei Seasick Steve: Hauptsache, es ist anders als das Gewohnte.
Anders ist auch Philip Sayce. Der gebürtige Brite, der seit frühster Jugend in Kanada lebt, zählt ebenfalls zu den heißesten Namen in Sachen moderner Bluesrock. Gerade hat der 33-Jährige mit INNEREVOLUTION sein zweites Album veröffentlicht, auf dem er die perfekte Mischung aus Tradition und Moderne hinlegt. Hendrix, Jeff Healey, Stevie Ray Vaughn heißen seine Vorbilder, aber es darf auch gerne grooviger sein, für ein bisschen Lenny Kravitz zwischen den Zeilen ist immer noch Platz. Diese Lockerheit teilt er mit seinem deutschen Kollegen, dem 27-jährigen Hendrik Freischlader. Auch Freischlader liebt die musikalische Offenheit: Er kann hart rocken, aber auch im Jazz aufgehen. Wohl auch deshalb nennt er Gary Moore als Vorbild, der sich nicht nur dem Bluesrock allein verschrieben hat, sondern durchaus auch Soul und Funk einen Platz einräumt.
Dabei wird deutlich: Diese Beweglichkeit und der Mut, abseits der festgefahrenen Pfade zu bluesrocken, ist zurzeit der richtige Weg, um sich einen Namen zu machen. Dabei, und das unterschreiben auch die jüngsten Bluestalente ohne Zögern, ist eines jedoch wichtig: Die Wurzeln müssen erhalten bleiben. So sieht das auch der britische Blueser Ian Siegal (39): „Bei aller Liebe zum Experiment – es muss ehrlich rüberkommen und auch ein gewisses Niveau erfüllen. Howlin’ Wolf, Muddy Waters und Charlie Patton waren allesamt kein Blueser mit poliertem Sound, aber sie klangen nie schäbig. Sie wollten ihre Musik perfektionieren, darauf legten sie großen Wert. Gut so. Denn wer Blues spielen möchte, sollte auch Respekt vor dieser Musik haben.
BLUESKINDER
Hier sind sie, die jungen Bluesrocker(innen): allesamt unter 40 und allesamt Feuer
und Flamme für einen innovativen Sound.
So schnell kann es gehen: Gerade stand Philip Sayce noch mit Jeff Healey für eine kurze Jamsession auf der Bühne, und schon wenige Minuten später war er als vollwertiges Mitglied in dessen Band aufgenommen. Was für eine Ehre für den Mann aus dem britischen Aberystwyth, der seit frühester Kindheit im kanadischen Toronto lebt. Von diesem Moment an ging in Philip Sayces Karriere alles Schlag auf Schlag. Er spielte Gitarre für Uncle Cracker, später für Melissa Etheridge, bis er 2005 schließlich mit seinem Solo-Debüt PEACE MACHINE ums Eck kam. Darauf zollt er seiner Liebe zum kraftvollen Retro-Bluesrock Tribut – und dieselbe Leidenschaft spürt man auch auf seinem neuesten Album INNEREVOLUTION.
Stefan Schill, 20-jähriges Gitarrentalent aus Holland, hat Sayce gerade auf dessen Europatour begleitet – und musste sich dabei keineswegs hinter seinem Kollegen verstecken! Im Gegensatz zu vielen jüngeren Bluesrockern hält sich Schill nämlich alle stilistischen Schubladen offen und zollt nicht nur den Szenelegenden musikalisch Tribut: Er schreckt keineswegs da-vor zurück, sich auch mal eine funkige Einlage zu gönnen, im nächsten Augenblick aber eine formvollendete Verbeugung vor Steve Winwood hinzulegen oder in R’n’B-Regionen abzudriften. Sein stilis-tisches Spektrum beweist Mut – und der ist nun mal Voraussetzung für eine große Karriere.
Ja, ja, da ist sie wie-der: Sandi Thom (19), bekannt geworden durch ihre Webcam, durch die sie die Internetwelt an ihren Songs teilhaben ließ, hat gerade ihr zweites Album veröffentlicht. Und nein: Sie will nicht mehr, so wie noch vor drei Jahren auf ihrer Single ›I Wish I Was A Punk Rocker‹, wild drauflos riffen. Denn sie hat sich inzwischen dem Bluesrock verschrieben. MERCHANTS & THIEVES heißt ihre Platte – und selbst wenn sie damit keinen Originalitätspreis gewinnen wird, zeugen die Songs doch von Respekt für die Musik und deren Protagonisten. Und sie sind ohne Zweifel massenkompatibel.
Bereits im Jahr 2000 hat der damals 19-jährige Wes Jeans mit seinem Debüt HANDS ON für Furore gesorgt – zumindest in den Vereinigten Staaten, seiner Heimat. Inzwischen ist Jeans we-sentlich gereifter, was man seinem im Herbst vergangenen Jahres erschienenen Live-Album WES JEANS LIVE AT THE MUSIC CITY deutlich anhört. Er präsentiert seinen Bluesrock mit einem texanischen Feuer, das einige Hitze entfacht!
Sie werden schon mal als „Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist“ angekündigt. So ganz stimmt das zwar noch nicht, doch ansatzweise ist die Musik des britischen Trios The Brew tatsächlich schon fast göttlich. Kurtis Smith (Drums) steht seinem Vater, Frontmann Tim (Gesang, Bass), in Sachen Talent in Nichts nach, und Gitarrist Jason Barwick übertrifft die beiden sogar noch in Sachen Virtuosität. Mit ih-rem Hendrix-lastigen Sound, der auch etliche Led Zep-Zitate mit einschließt, gehören sie momentan zu den angesagtesten UK-Bands. Kaum ein Bluesrock-Festival ohne The Brew.
Er ist momentan der hellste Stern am deutschen Bluesrock-Firmament: Henrik Freischlader. Der Autodidakt hat erst spät die Gitarre für sich entdeckt, sich davor aber an etlichen anderen Instrumenten versucht. Das kommt ihm heute zu Gute: Er verfügt nicht nur über ein unnachahmliches Gespür für Blues, Rock, Soul, Funk oder Jazz, sondern kann sich auch in den Songs komplett selbst verwirklichen, so er das denn möchte – und auf dem 2009er-Album RECORDED BY MARTIN MEINSCHÄFER auch getan hat. Im Moment setzt er allerdings lieber auf die Zusammenarbeit mit Musikerkollegen: Gerade hat er mit seiner Band eine Tour durch die Schweiz beendet.
Viele kennen Dana Fuchs nur als Schauspielerin. Die US-Amerikanerin hat mit ACROSS THE UNIVERSE einen Filmerfolg gefeiert. Doch eigentlich sieht sich die 34-Jährige viel mehr als Musikerin. Aufgewachsen mit Ray Charles und Hank Williams, liegt ihr der Sound im Blut. Überzeugen können sich alle Skeptiker davon am 29. Juni. Dann eröffnet Dana nämlich mit ihrer Band für Joe Cocker auf dem Bonner Museumsplatz.
ANSPIELTIPPS
Jimmy Bowskill
LIVE
2009, Cargo
Noch keine 20 Jahre alt – und rockt bereits wie ein Großer! Der Mann mit der Les Paul haut kräftig in die Saiten – und das prägt natürlich auch diese Live-CD. Wer Hendrix liebt und die Po-wer eines Angus Young bewundert, ist hier goldrichtig. Eigentlich aber noch mehr bei einer von Bowskills Live-Shows…
Danny Bryant
JUST AS I AM
2010, In-Akustik
Fleißiger geht es kaum noch: Eigentlich ist Danny Bryant quasi ununterbrochen auf Tournee. Dennoch schafft es der 29-Jährige mit seiner Red Eye Band, nicht nur die Bühnen der Welt zu rocken, sondern auch im Studio ordentliche Arbeit abzuliefern. Auf seinem gerade erschienenen Album JUST AS I AM präsentiert er erneut schnörkellosen und kraftvoll krachenden Bluesrock, der aber auch an den richtigen Stellen den notwendigen Sanftmut zeigen kann. Zudem gibt’s ein tolles Cover von John Hiatts ›Master Of Disaster‹.
Mitch Laddie
THIS TIME AROUND
Provogue, 2010
Wer von Walter Trout entdeckt und gefördert wird, braucht eigentlich nichts mehr zu fürchten. Der 19-jährige Brite Mitch Laddie tut dies auch nicht. Auf seinem Debütalbum gibt er alles, Funk, Prog, Fusion, Jazz – und alles wird ebenso energisch wie geschickt in die Bluesrock-Basis eingeflochten. Gerade hat er seine UK-Tournee beendet, und im Spätsommer soll es auch hierzulande einige Gigs von Laddie geben.
Erja Lyytinen
GRIP OF THE BLUES
2008, Ruf
Noch eine Ecke vielschichtiger als ihre männlichen Kollegen präsentiert sich die 30-jährige Finnin auf ihrem zweiten Album: Blues und Rock bilden zwar die Basis der Songs, doch auch R’nB, poppig angehauchte Balladen oder Gospel-Passagen finden sich in den Stücken wieder, allesamt gekonnt eingeflochten und mit europäischem Flair versehen.
Scott McKeon
TROUBLE
2010, Provogue
Für sein zweites Album hat er sich Unterstützung geholt, auch wenn der 24-jährige Engländer Hilfe von außen eigentlich gar nicht nötig hätte. Dennoch: Robbie McIntosh (The Pretenders) sowie David Ryan Harris (John Mayer Band) haben wertvolle Arbeit geleistert, selbst wenn das leidenschaftliche Bluesrockwerk sicher auch ohne sie ein Erfolg geworden wäre. Allein der eingängige, mitreißende Opener ›The Girl‹ ist schon das komplette Album-Geld wert.
Davy Knowles & Back Door Slam
COMING UP FOR AIR
2010 , Blix Street
Großbritannien – natürlich! 22 Jahre ist Davy Knowles erst jung, hat’s aber trotz des zarten Alters schon geschafft, für Eric Burdon, Gov’t Mule oder Lynyrd Skynyrd zu eröffnen. Nach dem Aus der alten Back Door Slam-Besetzung ist er jetzt zurück mit neuer Mannschaft – und hat sich für COMING UP FOR AIR unter anderem Hilfe von Peter Frampton geholt. Das Resultat: purer Bluesrock, von hart bis zart. Stark.
Krissy Matthews
ALLEN IN REVERSE
2009, Mammi
Der 18-Jährige ist möglicherweise nicht der stärkste Sänger, aber sein Instrument beherrscht der Brite mit norwegischen Wurzeln ganz eindeutig. Sein drittes Werk ALLEN IN REVERSE, das im vergangenen Herbst erschienen ist, zeigt ihn von einer stark rockigen Seite, doch an einigen Stellen lässt er seiner Liebe zum verspielten Blues offenherzig freien Lauf.
Ian Parker
WHERE I BELONG
2007, Ruf
Zwar hat das Album des 33- Jährigen schon ein paar Jahre auf dem Buckel, ist aber nichtsdestotrotz empfehlenswert für all diejenigen, die nicht nur auf puren Blues stehen, sondern auch gelegentliche Ausflüge in Soulregionen zu schätzen wissen.
Matt Schofield
HEADS, TAILS & ACES
2009, Nugene
Der 32-jährige Brite versteht es, Bluesrock mit Funk- und Jazz-Anleihen zu verschmelzen, er covert gekonnt Freddie King und Elmore James und hat sich dadurch bereits eine stattliche Fangemeinde erspielt.
Joanne Shaw Taylor
WHITE SUGAR
2009, Ruf
Sie ist bereits seit etlichen Jahren live unterwegs – und das merkt man Taylors aktuellem Album auch an. Sie ist inzwischen 23 Jahre alt und weiß, wie sie klingen möchte. WHITE SUGAR ist ein von texanischem Feuer infiziertes Blueswerk voll rauer Kraft und mit viel Seele, das durch Stücke wie das brennen-de ›Time Has Come‹ oder den Blues-Shuffle ›Bones‹ besticht.