Def Leppard veröffentlichen DRASTIC SYMPHONIES, für das sie einige ihrer Klassiker mit dem Royal Philharmonic Orchestra neu aufgenommen haben. Sie luden uns in die Abbey Road Studios ein, um zu erleben, wie das Album Gestalt annahm.
Oft kommt das bei Joe Elliott nicht vor, doch einen kurzen Moment lang fehlen dem Sänger von Def Leppard die Worte. Er und die anderen vier Mitglieder der Band – die Gitarristen Phil Collen und Vivian Campbell sowie Schlagzeuger Rick Allen und Bassist Rick „Sav“ Savage – stehen auf heiligem Boden hier im Studio 1 in der Abbey Road, wo die Beatles einst einige ihrer besten Songs einspielten. Doch diese ist keine gewöhnliche Aufnahmesession für Def Leppard. Sie sind nicht hier, um zu spielen, sondern um zuzusehen. Dafür befinden sie sich auf einem Balkon hoch über dem Boden des Studios. Unter ihnen, in ordentlichen Reihen platziert, sind die Musiker des Royal Philharmonic Orchestra. Und als das Orchester die Melodie eines der größten Leppard-Hits spielt, ›Love Bites‹, formt Elliott mit dem Mund ein schweigendes „Wow“. Es ist ein Wintertag Anfag 2022 und Def Leppard haben uns in die Abbey Road eingeladen, um die Entstehung dessen zu bezeugen, was Joe als „die ungewöhnlichste Platte, die wir je gemacht haben“ beschreibt. Sie heißt DRASTIC SYMPHONIES, und Sav meint mit einem Lächeln: „Das ist wirklich ziemlich drastisch. Sehr symphonisch. Und wir konnten es nicht wirklich ORCHESTRAL MANŒUVRES IN THE DARK nennen, nicht wahr?“
Auch andere Rockbands haben schon solche Projekte veröffentlicht. Zum einen Deep Purple, die 1969 ihrerseits das Royal Philharmonic Orchestra für CONCERTO FOR GROUP AND ORCHESTRA engagierten, für das der kultivierte Keyboard-Maestro Jon Lord einen Originalscore komponiert hatte, der dann in der Royal Albert Hall live dargeboten und aufgezeichnet wurde. Oder Metallica, die mit dem San Francisco Symphony Orchestra zwei Live-Alben einspielten, S&M und S&M2 (was eine Abkürzung für „Symphony And Metallica“ ist). Joe Elliott ist sich dessen bewusst, bezeichnet DRASTIC SYMPHONIES aber als ein ähnlich ambitioniertes Projekt: „Wir begeben uns hier auf Neuland, das andere Gruppen unserer Art aber schon mal besucht haben. Wir haben so etwas jedoch noch nie gemacht, und es ist interessant, wie weit wir dabei gegangen sind.“ Das Album enthält neue Versionen von 16 Songs mit Arrangements von Eric Gorfain, einem klassisch ausgebildeten Geiger und Komponisten, der schon mit Jimmy Page und Robert Plant, Neil Diamond, Demi Lovato und vielen weiteren gearbeitet hat.
Die meisten Tracks basieren auf den Original-Masteraufnahmen, zu denen dann die Orchesterparts hinzugefügt wurden. Es gibt Hits, aber auch weniger bekannte Stücke, das älteste ist von 1981. Am Ende eines langes Tages bei Abbey Road erklärt Joe Elliott nach getaner Arbeit die Methode und das Denken hinter dieser Platte: „Es geht darum, diese Lieder zu erweitern. Größtenteils werden unsere Backingtracks da so weit reduziert, dass das Orchester wirklich glänzen und im Vordergrund stehen kann, denn das ist schließlich der Sinn der Sache. Doch das sind nicht einfach nur unsere Greatest Hits, über die wir ein Orchester gelegt haben, als würde man Butter auf eine Scheibe Toastbrot schmieren. Mit diesem Album wollten wir das, was wir in der Vergangenheit als Rocksongs gemacht hatten, glorifizieren, es episch machen.“ Frühling 2023. Etwas über ein Jahr nach dieser Session bei Abbey Road – ein Jahr, in dem alle bei Def Leppard und in ihrem Umfeld DRASTIC SYMPHONIES streng geheim gehalten haben – dürfen Joe und Sav endlich freimütig und im Detail über das Werk und seine Entstehung sprechen. Wir unterhalten uns über Zoom mit ihnen – Joe ist in Dublin, Sav in Sheffield. Als Erstes verrät Sav, dass die Idee dazu nicht aus der Band kam: „Ich glaube, es war unsere Plattenfirma, die das vorschlug“, gesteht er. „Und Plattenfirmen sind nun mal Plattenfirmen, also wollten sie einfach unsere Greatest Hits mit Streichern. Doch als der Startschuss fiel, gingen wir es nach richtiger Def-Leppard-Manier an. Da stürzt man sich zu 100 Prozent rein.“
Joe stimmt ihm zu: „Es stand nie auf meiner ‚bucket list‘, ein Album mit einem Orchester zu machen, doch daraus ist jetzt ein weiteres dieser seltsamen Dinge entstanden, die wir gemacht haben – wie eine Show mit Taylor Swift oder ein Duett mit Countrysängerin Alison Krauss oder Tim McGraw. Noch etwas, das für uns abseits der Norm liegt.“ Als das Projekt erstmal lief, war der erste und wichtigste Prozess die Songauswahl. „Wir mussten unbedingt sicherstellen, dass wir die richtigen Stücke hatten“, so Joe. Einige davon standen sofort fest, etwa die Balladen ›Have You Ever Needed Someone So Bad‹ und ›When Love And Hate Collide‹, das ja auch schon in der Originalversion Streicher beinhaltet. Andere logische Kandidaten waren ein paar weniger bekannte Albumtracks: ›Gods Of War‹, ›Paper Sun‹, ›Turn To Dust‹, ›Love‹ und ›Kings Of The World‹. „Das sind epische Songs, also fanden wir, dass man da mit der Orchestrierung wirklich in die Vollen gehen konnte, weil sie schon im Original so bombastisch klingen.“
Doch schon am Anfang der Arbeit mit Eric Gorfain wurde klar, dass einige ihrer größten Lieder – die Rockhymnen – in diesem Kontext nicht funktionieren. Gorfain kam erstmals in die Umlaufbahn von Def Leppard, als er Phil Collen bei der Produktion der Platte SHOCK von Tesla (2019) half und mit Joes anderer Gruppe Down’n’Outz an deren THIS IS HOW WE ROLL arbeitete. „Eric spielte als Junge Schlagzeug zu unserem Zeug“, verrät Joe. „Er ist ein Rocker, der im Orchesterbereich tätig ist, statt jemand, der aus der Klassik kommt, sich mal am Rock’n’Roll versuchen will, aber ihn nicht wirklich versteht. Er wusste genau, was uns vorschwebte, vor allem, nachdem er zuvor schon mit Phil und mir zusammengearbeitet hatte. Doch als wir provisorische Orchesterfassungen der großen Rock-nummern wie ›Photograph‹ und ›Rock Of Ages‹ machten, klang das furchtbar! Also sagten wir: ‚Nein, das machen wir nicht. Es muss funktionieren oder es kommt nicht auf die Platte.‘“
Sav erklärt mit einem Schulterzucken: „Ich weiß, dass das jetzt für gewisse Leute etwas technisch klingen mag, aber wenn ein Song in Moll geschrieben wurde, ist es leichter, Streicherparts einzufügen und melodischer zu sein. Doch bei ›Photograph‹ und ›Rock Of Ages‹, die absolut Dur-lastige Stücke sind, klingt eine orchestrale Fas- sung einfach ein bisschen launisch oder sogar wie eine Parodie. Letztlich hängt es von der Natur des Songs ab. Wir wussten, dass wir in den Abgrund stürzen konnten, wenn wir die falschen Sachen auswählten. Und deshalb ist dieses Album so cool, denn wir haben uns nicht nur die Hits herausgepickt. Wir entschieden uns für die Stücke, die wirklich passen für Streicher und all die Dramatik.