Was sich nach der Auflösung von Creed vor beinahe zehn Jahren bis heute entwickelt hat, konnte wohl kaum jemand ahnen. Damals standen die Zeichen nicht gerade gut für die nach dem Weggang ihres Sängers Scott Stapp verbliebenen Bandmitglieder. Gitarrist Mark Tremonti, Bassist Brian Marshall und Drummer Scott Phillips, einst Instrumentalisten einer der kommerziell erfolgreichsten Bands des vergangenen Jahrzehnts, mussten 2004 erneut von vorne anfangen. Zusammen mit Ausnahmevokalist Myles Kennedy gründeten sie ihre eigene Gruppe Alter Bridge. Mit jedem Jahr, jeder Platte und jeder Tour wuchs die Anhängerschaft der Hard Rocker aus Orlando. Nun veröffentlichen sie ihr bereits viertes Studioalbum FORTRESS und können mit Fug und Recht behaupten, dass sie es geschafft haben. Dementsprechend freudig und optimistisch gaben sich die Chefs Kennedy und Tremonti im Interview mit CLASSIC ROCK.
„Wir sind alle super aufgeregt“, platzt es aus Myles Kennedy heraus. „Dieser alte Vergleich vom Baby, das man endlich zur Welt bringt, ist wirklich noch immer am treffendsten“, fährt der Sänger mit dem enormen Stimmumfang fort. „Ich denke, dass FORTRESS die natürliche Weiterentwicklung dieser Band ist und die Reaktionen darauf sind bis jetzt überwältigend. Dass allein die Single schon so gut ankommt, habe ich noch nie erlebt“, stimmt Mark Tremonti ähnlich gut gelaunt mit ein.
Die beiden scheinen überaus zufrieden mit dem neuen Material, das sie selbst als die experimentierfreudigsten Stücke ihrer Laufbahn bezeichnen. Um dieses Ergebnis zu erreichen, so verrät Kennedy, gingen sie anders vor als bei früheren Produktionen. „Wir wollten uns diesmal nicht zu sehr die Köpfe über die Arrangements zerbrechen. Als ich mit Slash unterwegs war ging ich nach der Show immer in den Bus und schrieb an den Songs. Genauso hat es Mark gemacht. Dann trafen wir uns und arbeiteten nicht länger als zwei Wochen an den Songstrukturen. Für unsere Verhältnisse war das richtig schnell. Bei BLACKBIRD saßen wir alleine an diesem Schritt über zwei Jahre“, so Myles über den neuen Workflow bei Alter Bridge. „Das war eine spaßige Herausforderung, denn dadurch ist ein aufregenderes und überraschenderes Album entstanden. Das hat bewirkt, dass einige Lieder richtig groß und episch wurden, weil wir gar keine Zeit hatten, sechsminütige Kompositionen zu kürzen“, fügt Tremonti hinzu. Auch dadurch haben die vier es wieder einmal geschafft, ihren Stil, der sich bei Alter Bridge traditionell mit jedem Langspieler weiterentwickelt, erneut zu verändern. „Ich würde sagen, dass diese Platte bei weitem nicht so finster wie ABIII geworden ist. Das war aber nie ein erklärtes Ziel.Was wir uns vorgenommen hatten, war, dass wir die neuen Songs gut live umsetzen können. Touren ist das wichtigste für uns, also war uns klar, dass wir diese Nummern auch auf der Bühne mit Freude spielen können müssen“, meint Tremonti. „Ja, das stimmt. Es ist auch nicht unbedingt unser härtestes Album. Zum ersten Mal haben wir aber sehr viele richtig aggressive Up-Tempo-Stücke auf einem Album. FORTRESS unterscheidet sich also schon stark von unseren früheren, doch meist melancholischen Platten“, erklärt Myles.
Alter Bridge, die betont darauf aus sind, ihre Grenzen voranzutreiben, sind nun an einem Punkt angekommen, an dem sie sich auch an durchaus drastische Experimente wagen, um der Hörerschaft etwas neues zu bieten. So durfte Mark Tremonti, der bislang bei AB lediglich Chef der Gitarren war, bei dem Stück ›The Waters Rise‹ die Lead Vocals übernehmen. „Myles wurde nicht so recht mit dem Song warm. Also nahm ich die Herausforderung an. Ich bin sehr zufrieden damit und mag besonders die Tatsache, dass Myles auch ein wenig mitsingt und wir das gemeinsam gemacht haben“, erklärt er seinen mutigen Schritt ans Mikrofon. „Nachdem ich Marks Gesang auf seinem Soloalbum gehört habe, war es eine leichte Entscheidung. Ich dachte mir: Hey, wir haben hier eine Geheimwaffe! Warum nutzen wir sie nicht?“, so Myles, der beinahe ein wenig stolz auf Mark zu sein scheint.
Was genau das Duumvirat denn so auf FORTRESS singt, weiß Myles, der seine Inspiration für seine Texte aus den Geschehnissen in seinem näheren Umfeld zieht, zusammenzufassen. „Das Album heißt FORTRESS wegen des Bildes, das eine Festung in uns weckt. Sie ist etwas uneinnehmbares, unerschütterliches und sicheres. Wenn du jünger bist, glaubst du, dass vieles um dich herum unzerstörbar und ewig ist. Das kann alles Mögliche sein: Institutionen wie die Ehe, Religion und so weiter. Doch die Jahre vergehen, du wirst erwachsen und merkst, dass alle Dinge irgendwann in sich zusammenfallen. Nichts hält für die Ewigkeit. Das ist mein zentrales Motiv auf dem Album, um das ich weitere Themen wie Betrug und Gier behandle“, so Myles. Doch Kennedy, der auf FORTRESS seine ernüchternden Erkenntnisse verarbeitet, findet hie und da auch einige positive Töne. Vor allem die Ballade ›All Ends Well‹, die Myles besonders am Herzen liegt, ist ein Mutmacher. „Als ich ein Kind war, hatte ich viele Frage über das Leben und darüber, wie alles werden würde. Ich hatte viele Zweifel. Meine Mutter versicherte mir immer, dass schon alles gut ausgehen würde. Alles wird gut! Daraus konnte ich immer Kraft schöpfen. Nach Jahren blicke ich zurück und sie hatte Recht! Ich freue mich schon, Mom das Lied vorzuspielen, denn noch hat sie es nicht gehört“, meint Myles stolz.
Dass sich bei den beiden alles so entwickelt hat, ist allerdings gewiss nicht nur das Verdienst ihres Schicksals. Viel mehr erarbeiten sich Tremonti und Kennedy ihr Rockstar-Glück jeden Tag aufs Neue. Zumal es beiden nicht reicht, in nur einer Band aktiv zu sein. So ist Tremonti seit einigen Jahren erneut mit den wiedervereinten Creed unterwegs und hat unlängst sein erstes Soloalbum veröffentlicht. Myles vertreibt sich währenddessen die Zeit mit den Arbeiten an seinem eigenen Solowerk und ist fester Frontmann in der Band von Ex-Guns N‘ Roses-Legende Slash. „Das alles fordert schon sehr viel Opferbereitschaft und es zehrt an deinen Kräften. Aber noch läuft mein Motor auf allen Zylindern“, gibt Myles etwas aufgedreht Entwarnung. Die Kräfte für die Veröffentlichung von FORTRESS und die darauf folgende Tour durch Deutschland scheinen also vorhanden zu sein und Tremonti, der bereits vor Jahren einen Grammy mit Creed gewann, weiß, welches offenbar bescheidenes Ziel er verfolgen will: „Ob wir damit irgendetwas gewinnen, ist nicht von Bedeutung. Wir wollen unsere Fans glücklich machen und uns selbst künstlerisch zufriedenstellen. Es bringt dir nichts, die größte Band der Welt zu sein, wenn du nicht glücklich mit deiner Musik bist.
Paul Schmitz