Als Jethro Tull vor 40 Jahren ihr Album THICK AS A BRICK veröffentlichten, wollte Mastermind Ian Anderson vornehmlich seinem Ärger gegenüber einigen Kritikern Luft machen, die die Band Anfang der 70er in die Schublade des bombastischen und übertriebenen Effekt-Progs steckten. Dass dieses Werk schon wenige Jahre später von vielen als die Mutter aller Konzeptalben angesehen wurde, erwartete niemand. Nun führt Ian Anderson die Geschichte um Wunderkind Gerald Bostock fort – und spart auch hier nicht an Kritik.
Die beste Nachricht zuerst: Gerald Bostock lebt! Das mag im Vergleich zu dringenden Fragen der globalen Klimaerwärmung, der atomaren Bedrohung durch so genannte Schurkenstaaten, des seit Monaten drohenden Finanzkollaps westlicher Länder oder der vermeintlichen Selbstbedienungsmentalität deutscher Staatsoberhäupter zu-nächst wie eine unbedeutende Marginalie klingen. Doch für Fans der britischen Rockband Jethro Tull gehört diese Auskunft zu den erfreulichsten Meldungen der zurückliegenden 40 Jahre. Denn parallel mit dem aktuellen Situationsbericht über den Verbleib der fiktiven (Roman-)Figur Bostock geht die Veröffentlichung von THICK AS A BRICK 2 einher. Es ist die lang ersehnte und immer wieder eingeforderte Fortsetzungsgeschichte eines der wichtigsten Konzeptalben der Rockgeschichte.
THICK AS A BRICK 1 aus dem Jahr 1972 gehört fraglos zu den 100 wichtigsten Rockscheiben aller Zeiten und hält Vergleiche mit Konzeptklassikern wie TOMMY (The Who), THE WALL (Pink Floyd), LAMB LIES DOWN ON BROADWAY (Genesis) oder OPERATION MINDCRIME (Queensrÿche) mühelos stand. Die Geschichte um das große dichterische Talent des acht-jährigen Helden Bostock wurde damals in allen Details so wirklichkeitsnah erzählt, dass der Erfinder der Figur, Jethro Tull-Sänger/Flötist Ian Anderson, zunächst sogar im Verdacht stand, den Namen Bostock als Pseudonym für seine eigene Lebensgeschichte zu verwenden. Kein allzu abwegiger Gedanke, auch wenn Anderson heute behauptet, dass „von mir nur etwa 20 Prozent im Charakter des Titelhelden zu finden sind. Der Rest basiert auf Beobachtungen anderer Menschen und ihrer Schicksale. Und die reichen von Ian Fleming bis zu William Shakespeare.“
Doch die Aufmachung der Original-LP im Stile der lokalen Tageszeitung „St. Cleve Chronicle“ war so realistisch und überzeugend – zumal die Bostock-Meldung geschickt als kleine Meldung verpackt wurde und damit die Glaubwürdigkeit der Geschichte noch zusätzlich steigerte –, dass man vieles durchaus für bare Münze halten konnte, was eigentlich nur den Hirnwindungen Andersons entsprungen war.
Und auch die musikalische Ausrichtung der ‘72er Kultscheibe mit ihrer Mischung aus Rock, Folk, Blues und progressiven Anleihen besitzt alles, was ein schlüssiges Konzeptwerk braucht, inklusive aller notwendigen Details, Widerhaken und bewussten Antagonismen. Vieles von dem, was man seinerzeit auf THICK AS A BRICK 1 zu hören bekam, konnte man später in mehr oder minder deutlichen Zitaten auf artverwandten Klasse-scheiben wie THE SNOW GOOSE (Camel) oder auch MISPLACED CHILDHOOD (Marillion) wiederfinden. Man sollte THICK AS A BRICK vielleicht nicht gleich als Mutter aller Konzeptalben bezeichnen, aber zumindest als große Tochter oder Schwägerin.
Hufschmied als Namensgeber
Als Anderson im Herbst 1967 die Band gründete, konnte er natürlich nicht ahnen, wie viele Rock-Klassiker er in den folgenden Jahren an den Start bringen und auch noch lange nach der Jahrtausendwende Massen von Musikfans in seine Konzerte locken würde. Der Name Jethro Tull geht auf einen 1674 geborenen englischen Landwirt und Schriftsteller zurück, von dem 1731 das Buch „The New Horses Hoeing Husbandry“ (zu Deutsch etwa: „Wie man Pferde richtig beschlägt“) veröffentlicht wurde. So skurril die Namenswahl, so bunt und einfallsreich auch die Geschichten, die Anderson in musikalische Form brachte. Neben der Wunderkind-Erzählung auf THICK AS A BRICK schlüpfte er auf MISTREL IN THE GALLERY in Kostüme des Elisabethanischen Englands, ergriff in SONGS FROM THE WOOD Partei für die bedrohte Natur oder betrachtete die Rolle zeitgenössischer Musik in TOO OLD TO ROCK’N’ROLL mit einer gehörigen Portion kritischem Humor. Dabei ließ sich die Band stilistisch nie einer bestimmten Spezies zuordnen. „Es gab die unterschiedlichsten Phasen in unserer Karriere“, wundert sich auch Anderson selbst über die breite Palette verschiedenartiger Grundströmungen. „Heute würde ich Jethro Tull als riesiges Gemälde mit vielen De-tails sehen“, sagt er. „Es gab Zeiten, da waren wir eine Blues Band, wir haben Progressive Rock gemacht, es gibt Stücke mit Hardrock-Einflüssen, mit asiatischen Elementen und Einflüssen des Mittleren Ostens. Und natürlich war immer auch das Folk-Element herauszuhören.“ So bunt die musikalische Darreichungsform der Gruppe, so vielseitig die Interessen des 65-jährigen Engländers, der aber dennoch bekennt: „Ich fühle mich als Musiker rein akustischer Instrumente, der zusammen mit Rockmusikern zur Arbeit geht. Das ist manchmal ganz schön hart, aber genau das ist es, was den Reiz dieser Band ausmacht.“
Website statt Tageszeitung
Ian Anderson ist seit 45 Jahren Chefdenker und Galionsfigur von Jethro Tull. Der Mann gilt als eigenwillig und schwierig, gleichzeitig aber auch als blitzgescheiter Zeitgenosse, gewiefter Geschäftsmann (seine Lachsfarmen in Schottland bringen millionenschwere Umsätze) und kritischer Beobachter der Auswüchse von Größenwahn, Ignoranz und Maßlosigkeit. „Das öffentliche Leben hat sich stark verändert“, sagt er mit Blick auf seine Fortschreibung der Bostock-Vita, „und damit die Lebensbedingungen der heutigen Jugend. In den frühen Siebzigern, als THICK AS A BRICK 1 entstand, herrschte in England noch große wirtschaftliche Not, viele Menschen waren arbeits- und obdachlos und rutschten ob ihrer misslichen Lage in die Drogenabhängigkeit. Heute gehören Sex und Drogen im Internet auch zum täglichen Leben der Mittelschicht. Man kommt automatisch damit in Kontakt, ob man will oder nicht. Man kann sich das heutige Leben ohne Internet und Cyberspace nicht mehr vorstellen. Diese Medien sind mittlerweile zu einer parallelen Wahrheit neben der tatsächlichen Realität gewachsen, egal ob man das nun gutheißt oder nicht.“ Anderson berücksichtigt diese Tatsache auf THICK AS A BRICK 2 und funktioniert den „St. Cleve Chronicle“ kurzerhand in eine tatsächlich existierende lokale Website ( HYPERLINK http://www.stcleve.com) um, inklusive der offenkundigen Unvollkommenheit vieler solcher Seiten. Gedacht ist diese Website als Forum für fiktive Nachrichten und als soziales Netzwerk für Kommunikationsfreudige. Dass Andersons Webseitenauftritt dabei nicht gerade den neuesten Stand der Internetentwicklung repräsentiert ist seinem Alter geschuldet – und vermutlich auch dem seiner Zielgruppe. Denn auch die Wiederaufnahme der Poetenchronik um Gerald Bostock ist ausschließlich in traditionelle Rockmusik gekleidet – zum Glück.
Sechs Jahre lang reifte der Gedanke der Bostock-Fortsetzungsgeschichte in Anderson. Immer wieder seien Plattenfirmen mit dem Wunsch an ihn herangetreten, eine Neuauflage des ‘72er Klassikers zu schreiben. „Aber der Gedanke daran schien mir zunächst unattraktiv, da zu wenig zeitgemäß, zu stark nostalgisch verbrämt und somit langweilig.“ Doch irgendwann habe er sich selbst dabei erwischt, wie seine Gedanken immer häufiger um das Schicksal seines einstigen Helden zu kreisen begannen. „Es fing an mich zu interessieren, was aus Gerald Bostock wohl geworden sein könnte. Und aus dieser Neugier entstand dann genau die Aktualität, die ich brauchte, um Spaß an einer Fortsetzung zu haben.“ Im Herbst 2010 seien erste kleine Manuskripte und Textfragmente entstanden, inklusive der Idee, auch das vermeintliche Relikt einer auf Papier gedruckten Tageszeitung in ein modernes Kommunikationsforum zu transformieren: „Ich war ja nicht 20 Jahre lang auf dem Planeten Neptun in Urlaub. Deshalb weiß ich natürlich, was gegenwärtig in einer Welt los ist, in der sich junge Menschen kaum noch orientieren können.“
Anderson kennt dieses Gefühl von Ziellosigkeit, Unsicherheit und Zukunfts-angst. Und er weiß nur allzu gut, wie stark Zufälle in die persönliche Vita von Menschen hineinspielen. Ihn beschäftigt beispielsweise die Frage, was wohl aus seinem eigenen Leben geworden wäre, hätte der Stationsvorsteher einer Polizeidienststelle in Blackpool Mitte der Sechziger seine Bewerbung angenommen, anstatt ihn zunächst auf die Universität zu beordern. „Damals hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Polizist zu werden. Ein abstruser Gedanke? Ich denke nicht. Ich schätze, dass ich sogar ein sehr guter Polizist geworden wäre. Doch der Chef der Dienststelle lehnte meine Bewerbung ab und erklärte, dass ich als 17-Jähriger noch zu jung sei und erst mal drei Jahre auf die Uni gehen und mich dann noch einmal bewerben solle. Wer weiß, ob ich nicht heute ein Polizist im Ruhestand wäre, wenn man mich damals angenommen hätte.“
Bostock als Investmentbanker
Eine fast deckungsgleiche Erfahrung musste Anderson wenig später auch bei einer englischen Zeitungsredaktion machen, bei der er sich beworben hatte. Auch dort riet man dem jungen Mann, sich zunächst an der Uni zu immatrikulieren und die Bewerbung erst nach abgeschlossenem Studium zu erneuern. „Es sind mitunter nur zwei, drei Sekunden, die über den weiteren Verlauf des Lebens entscheiden und die einem immer wieder neue Perspektiven eröffnen“, sagt der Tull-Boss, „ich jedenfalls glaube nicht an Schicksal oder Fügung, sondern daran, dass es im Leben immer wieder Situationen gibt, an denen man sich neu entscheiden kann.“ Es scheint fast, als ob Anderson seinen Titelhelden Gerald Bostock auf THICK AS A BRICK 2 gewissermaßen an seiner Stelle die vielen Möglichkeiten des Lebens ausschöpfen lässt. Mal sieht man Bostock als Soldaten, dann als korrupten evangelischen Pastoren oder als einfachen Mann, der einen kleinen Kiosk betreibt und in seiner Freizeit mit Modelleisenbahnen spielt. Aber es gibt Gerald Bostock 2012 auch als egoistischen Investmentbanker, sozusagen als „personifiziertes Übel unserer Tage“, wie Anderson genau weiß, um ihn sofort anschließend auch in der Rolle eines Gescheiterten zu beschreiben, dessen Leben komplett aus den Fugen geraten ist. „Für mich ist wichtig, dass man erkennt, dass all dieses auch uns selbst passieren könnte. Es ist oftmals nur die Winzigkeit eines Augenblicks, einer Intuition, die uns für die eine oder andere Richtung entscheiden lässt.“ Andersons Entscheidung, nach den abgelehnten Bewerbungen ab 1964 am Blackpool College Of Art Kunst zu studieren, erwies sich jedenfalls als Glücksgriff.
Tausche Gitarre gegen Flõte
An einen weiteren, für ihn wegweisenden Moment kann sich Anderson noch besonders gut erinnern: der Tag, an dem er zum Flötisten wurde. Oder besser: als er aus der Not heraus seine Gitarre gegen eine Flöte tauschte, ohne zu wissen, was er eigentlich damit machen solle. „Im Grunde genommen war ich in Geldnot, also beschloss ich, meine 1960er Fender Stratocaster zu verkaufen. In einem kleinen Musikgeschäft entdeckte ich diese wunderbar golden glänzende Flöte. Ich weiß nicht mal mehr, weshalb sie mich so sehr faszinierte, aber die Sonne schien so klar und hell durch die Fensterscheiben und ließ die Flöte geradezu erstrahlen.“ Anderson entschloss sich zu einem Tausch: Er bekam 150 britische Pfund für seine Fender und musste im Gegenzug für die Flöte und ein dazu passendes Mikrophon 30 Pfund berappen. Mit 120 Pfund Bargeld, einem Mikro und einem neuen Instrument verließ er das Ge-schäft wieder. Fast ein halbes Jahr wusste er mit der Flöte nichts anzufangen, dann begann er sich damit zu beschäftigen und wurde in wenigen Jahren zum berühmtesten Rock-flötisten der ganzen Musikgeschichte. „Aber“, so der gewitzte Geschäftsmann Anderson mit leicht wehmütiger Stimme, „besser wäre es gewesen, die Gitarre zu behalten und sich das Geld für die Flöte zu leihen, denn mittlerweile wäre eine Fender Stratocaster aus dieser Bauphase locker bis zu 40.000 Dollar wert.“
Flõtenräuber
Über den heutigen Preis seiner ge-schichtsträchtigen Flöte hingegen verliert Anderson kein Wort. Aus gutem Grund, denn vielleicht war ja so manch einer, der im Mai eine der aktuellen Konzerte der britischen Rock-Legende besuchen wird, schon 1977 mit dabei, als Anderson bei ei-nem Konzert in der Bremer Stadthalle sein Instrument gestohlen wurde. In jenen Tagen hatten Jethro Tull gerade ihr Album SONGS FROM THE WOOD veröffentlicht und befanden sich auf großer Welttournee. Anderson selbst erinnert sich mit Schrecken an diesen Abend: „Beileibe kein Kavaliersdelikt, sondern das Schlimmste, was einem Musiker passieren kann. Einem Musiker sein Instrument zu stehlen, ist, als ob du ihn seiner Frau beraubst. Manchmal sogar noch schlimmer als das. Ich würde mit Sicherheit ins Gefängnis gehen, wenn ich einem solchen Dieb das antun würde, was ich in solchen Momenten gefühlt habe.“
Zum Glück hat der Ehemann und Vater zweier erwachsener Kinder (Sohn James ist Musiker, Tochter Gael arbeitet in der Filmindustrie) sein heiß geliebtes Instrument zurückbekommen, so dass er die legendäre Flöte möglicherweise auch mit auf die 2012er Tour nehmen könnte.
Ab Mai werden unter dem Namen Jethro Tull feat. Ian Anderson beide Teile der THICK AS A BRICK-Historie komplett aufgeführt. Vergessen also sind die Enttäuschungen der TAAB 1-Konzerte in den frühen Siebzigern, als Anderson die Reaktionen des amerikanischen Publikums so sehr störten, dass er das Konzeptwerk nie wieder in voller Länge aufführen wollte. „In England und Nordeuropa war alles okay, in diesen Ländern hatten die Zuschauer das Gespür, in ruhigen Passagen leise zu sein und das Album in seiner Gesamtheit auf sich wirken zu lassen. In Italien und Amerika dagegen war es ausgesprochen mühsam. Die Leute dachten scheinbar, jetzt kommt Deep Purple mit Flöte, keiner wollte die ruhigen Nummern hören, alle wollten nur feiern und tanzen. Doch zum Glück hat sich dies geändert, seit etwa zehn Jahren versteht das Publikum mein Anliegen in THICK AS A BRICK, und man kann auch leisere Nummern ohne nennenswerte Störung spielen.“
Jethro Tull feat. Ian Anderson
Die Ausweitung des Projektnamens, nämlich Jethro Tull feat. Ian Anderson, sei diesbezüglich ein bewusster Hinweis ans Publikum, um deren Erwartungshaltung auf einen ausschließlich rockigen Abend zu zügeln, behauptet das Tull-Oberhaupt. Diese Erklärung jedoch gehört vermutlich ähnlich ins Reich der Fabeln wie das Bostock-Abenteuer. Fakt ist, dass sich Anderson und Original-Tull-Gitarrist Martin Barre zerstritten haben. Barre tourt seither mit seiner neuen Band New Day und einem Programm mit Jethro Tull-Stücken der ersten vier Alben, während Anderson für seinen langjährigen Weggefährten das deutsche Talent Florian Opahle verpflichtet hat und nun dokumentieren will, dass er allein der Urheber der Bostock-Reanimation ist: „Vielleicht ist es ja immer auch ein gewisser Egoismus, der einen Künstler antreibt, vergleichbar mit dem von Roger Waters und seiner THE WALL-Tour ohne Pink Floyd. Ich möchte einfach, dass die Leute wissen: THICK AS A BRICK 2 ist mein Baby! Und deshalb soll mein Name dem ganzen Projekt vorangestellt sein.“ Der Mann ist halt auch ein britischer Starrkopf.