Von lichten Höhen und tiefen Abgründen
Produzent mit dem goldenen Händchen, durchgeknallter Egomane, verurteilter Mörder: Die Popkultur hat bekanntlich jede Menge Exzentriker hervorgebracht, doch Phil Spector gebührt selbst in dieser Riege eine Sonderstellung. Die gut abgehangene Phrase, laut der Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen, trifft in seinem Fall den Nagel wirklich auf den Kopf.
Fällt der Name Phil Spector, dann entfleuchen dem popkulturellen Bescheidwisser spontan drei kleine Worte: Wall of Sound. Nur: Was ist das eigentlich? Begeben wir uns gedanklich in die frühen 60er Jahre zurück und stellen uns einen konventionellen Popsong jener Ära vor. Man hört Bass, Gitarre, Schlagzeug, vermutlich ein Piano, Leadgesang und die damals beliebten Doo-Be-Doo-Backgroundchöre. Ende der Vorstellung. Auftritt Phil Spector: Der verfuhr nach dem naheliegenden, in den USA ohnehin beliebten Motto „bigger is better“ und rüstete mächtig auf: Streicher und Bläser, Elektro- und Kontrabass gedoppelt. Drei Gitarristen und zwei Schlagzeuger, die exakt das Gleiche spielten, ergänzt um zusätzliche Percussionisten. Und weil das alles noch nicht reichte, legte er so viel Hall auf die Aufnahme, dass sie klang, als sei sie in einer Kathedrale mitgeschnitten worden. Die reine Wucht. Warum das Ganze? Weil Pop damals in den USA vornehmlich im Mittelwellenradio lief, das dank mangelnder Bandbreite keine Höhen übertrug (das tut es bis heute nicht). Der junge Durchschnittskonsument besaß zu-dem keine dicke HiFi-Anlage, sondern ein kleines Transistorradio mit blechernem Klang. Doch Spector-Produktionen klangen selbst im batteriebetriebenen Taschenradio, Made in Japan, ungewöhnlich fett. Ein Alleinstellungsmerkmal. Und: absolut stilprägend.
Der Aufstieg
Aber der Reihe nach: Phillip Harvey Spector, am 26. Dezember 1939 ins jüdisch-kleinbürgerliche Milieu der New Yorker Bronx hineingeboren, gründete mit 19 Jahren die Band The Teddy Bears, für die er den Song ›To Know Him Is To Love Him‹ komponierte – der 1958 prompt Platz 1 der amerikanischen Charts erreichte. Was ihm umgehend den Ruf des „Pop-Wunderkinds“ einbrachte, denn dass ein 19-jähriger Nobody einen Nummer-1-Hits zustande brachte, galt Ende der 50er Jahre, als das Metier noch von professionellen Kompositionsteams dominiert wurde, als echte Sensation. Spector weilte kurzzeitig in Hollywood, wo er von Stan Ross, dem Teilhaber der „Gold Star Studios“ protegiert wurde, der ihm die Grundzüge der Schallplattenproduktion nahebrachte. Spector lernte schnell, sehr schnell, und kehrte kurz darauf zurück nach New York, um beim Songwriterteam Jerry Leiber und Mike Stoller in die Lehre zu gehen und den letzten Schliff zu erhalten. Leiber/Stoller waren damals eine echte Macht, das Duo hatte Hits für The Coasters, The Drifters und nicht zuletzt Elvis Presley geschrieben, darunter Klassiker wie ›Hound Dog‹ und ›Jailhouse Rock‹.
Heute würde man Spectors Umtriebigkeit als „Networking“ bezeichnen, der ehrgeizige junge Mann knüpfte in der Tat hilfreiche Kontakte – die ihm allerdings gar nichts gebracht hätten, sofern er nicht mit dem entsprechenden Talent gesegnet gewesen wäre. Und Talent hatte er wirklich. Als Pop-Songwriter, der seine Zielgruppe kannte. Aber vor allem als Produzent.
1961 war es dann soweit. Gemeinsam mit Lester Sill, der zuvor mit einem anderen aufstrebenden Künstler namens Lee Hazlewood zusammengearbeitet hatte, gründete Spector ein neues Label. Der Name Philles Records ergab sich aus den Kurzformen ihrer beiden Vornamen, doch schon im Jahr darauf übernahm Spector die Anteile seines Kompagnons und wurde mit 21 Jahren Amerikas jüngster Chef einer Plattenfirma. Und wieder war vom Wunderkind die Rede, vom innovativen Überflieger, der genau wusste, was „Teenage America“ will und braucht. Erst recht, als die Philles-Single ›He’s A Rebel‹, gesungen von The Crystals, im März 1962 Platz 1 der Billboard-Charts erreichte. Spector hatte damit sein Erfolgsrezept gefunden: Girl-Groups, die teenagerelevante Stücke sangen, umgeben von der bombastischen Wall of Sound, für die eine Reihe Studiomusiker in Los Angeles verantwortlich zeichnete. Die hatten sich nach einer Eingebung des Schlagzeugers Hal Blaine den Spitznamen The Wrecking Crew zugelegt: Eine lose Gruppe ausgebuffter Sessionprofis, die in den 60ern so ziemlich alles und jeden begleitete, der in Los Angeles Musik aufnahm, darunter auch The Byrds, The Monkees und Simon & Garfunkel. PET SOUNDS von den Beach Boys? Verfeinert von der Wrecking Crew, den besten Instrumentalisten, die seinerzeit an der Westküste verfügbar waren. Den formidablen Bass auf diesem Album spielte auch nicht zwangsläufig Brian Wilson, sondern die wunderbare Carol Kaye. Im Grunde waren es klassische Sidemen (plus Sidewoman Kaye), deren Namen nur selten auf Plattenhüllen auftauchten, doch manche Mitglieder der Wrecking Crew erspielten sich auch als Solisten die adäquate Prominenz, etwa Mac Rebennack alias Dr. John, Leon Russell, Glen Campbell, Barney Kessel und Jack Nitzsche. Warum diese Leute so ungemein wichtig waren? Weil sie genug Geduld, Kompetenz und Erfahrung mitbrachten, auch die abgefahrensten Ideen des jungen Maestros zu realisieren.
Dessen erfolgreichster Philles-Act war neben den Crystals (›Da Doo Ron Ron‹, ›Then He Kissed Me‹) das Girl-Trio The Ronettes, das mit Stücken wie ›Be My Baby‹ und ›Walking In The Rain‹ – 1965 mit einem Grammy Award ausgezeichnet – Spectors Reichtum, Ruhm und Ehre mehrte. Spector produzierte aber auch das pompöse ›You’ve Lost That Lovin’ Feelin’‹, 1965 eine Nummer 1 für die Righteous Brothers, sowie den Klassiker ›River Deep, Mountain High‹ von Ike & Tina Turner.
Aber Mitte der 60er Jahre wehte der Zeitgeist plötzlich aus einer ganz anderen Richtung. Die Hipster der Stunde empfanden Spectors typischen Girl-Pop als reichlich angestaubt, denn die neuen Frauen in der Rockmusik, etwa Grace Slick von Jefferson Airplane und natürlich Janis Joplin, trugen keine adretten Bienenkorbfrisuren mehr und verspürten auch wenig Lust, irgendwelche Highschool-Dramen zu singen, in denen es um erste Küsse und letzte Abschiedsgrüße ging. Auf einmal war der Senkrechtstarter von einst nicht mehr innovativer Neutöner, sondern Repräsentant jener „naiven“ Popmusik-Phase, die mit dem Erscheinen der um künstlerische und spirituelle Horizonterweiterung bemühten Hippie-Kultur nur noch als gestrig galt. Fakt ist: Spector verlor damals langsam die Lust am Business, woran sicherlich auch steigender Drogenkonsum seinen Anteil hatte. 1967 zog er sich aus der Branche zurück und heiratete ein Jahr später die Ronettes-Frontfrau Veronica Bennet alias Ronnie Spector. Das Ende der Geschichte? Noch lange nicht. Zum einen, weil Spectors Produktionsstil längst auch von anderen Künstlern kopiert wurde: The Walker Brothers etwa gründeten ihre ganze Karriere auf der wagnerianischen Opulenz á la Spector, Queen, der großen Geste zugetan, sollten sich in Zukunft einiges vom Altmeister abschauen, ebenso wie manche Prog-Rocker mit ihren großorchestrierten Experimenten. Beach Boy Brian Wilson erklärte ihn noch in den 60ern zum Genie und Vorbild, die Beatles outeten sich zeitgleich als große Fans seiner Arbeiten. Womit das nächste Kapitel eingeläutet wurde.