Worin bestehen die Unterschiede zwischen Geoff Tate und Bill Gates – sind sie nur durch die Gene bestimmt oder spielen die Erziehung, das Elternhaus und die Freunde der Jugend eine ebenso wichtige Rolle? Der QUEENSRÿCHE-Sänger geht auf DEDICATED TO CHAOS, dem neuen Studioalbum der Progressive-Metal-Ikonen aus Seattle, unter anderem dieser Frage nach.
Risikoscheu oder ängstlich waren Queensrÿche noch nie. Mehr als nur einmal in ihrer mittlerweile 30 Jahre andauernden Karriere brach die Progressive Metal-Band aus Seattle mit Konventionen, ließ sich trotz hochgesteckter Erwartungen nicht von ihrem eigenwilligen Weg abbringen oder machte das genaue Gegenteil von dem, was kommerziell vernünftig gewesen wäre. Speziell Frontmann Geoff Tate, einer der charismatischsten und ungewöhnlichsten Sänger dieser Szene, sucht permanent nach Herausforderungen, neuen Zielen, Inspirationen.
Vor vier Jahren hätte er sich aber fast übernommen: Queensrÿche hatten beschlossen, ein Album über die Kriegshistorie ihres Heimatlandes zu schreiben, also: Zweiter Weltkrieg, Vietnam, Irak, Afghanistan, eine lange Leidensgeschichte von Gewalt, Verlust und Zerstörung. „Es war das erste Mal, dass ich Texte schrieb, die nicht von mir selbst handeln, sondern von Soldaten“, erklärt er. „Damit betrat ich absolutes Neuland.“ Um wirklich tief in die Materie einzutauchen, führten er und seine Kollegen zahlreiche Gespräche mit Soldaten, ließen sich strategisch-politische Zusammenhänge erklären und versuchten so, die Hintergründe zu verstehen. Das, was Tate & Co dabei erfuhren, war zum Teil schockierend und offenbarte den Musikern die gesamte Brutalität der Gefechte. „Das Thema war unglaublich emotional für mich“, sagt Tate, der zwar selbst nie gedient hat, dessen Vater aber ein hochrangiger Soldat war. Er geriet an seine psychische Belastungsgrenze, musste deshalb mitten in den Vorbereitungen zu den AMERICAN SOLDIER-Aufnahmen eine Pause einlegen und seine „Batterien neu aufladen“.
Um dennoch die Vertragsmodalitäten ihrer Plattenfirma zu erfüllen, schob die Band eilig ein Übergangsalbum mit Coversongs ein, das 2007 erschienene TAKE COVER. Erst danach fühlte sich Tate wieder fit genug, um am Kriegsthema weiterzuarbeiten. AMERICAN SOLDIER erschien im Frühjahr 2009 und dürfte (neben Tates Seelenstriptease auf dem Klassiker OPERATION: MINDCRIME) das intensivste Werk seiner Musikerlaufbahn sein. Im Anschluss an die Veröffentlichung spielten Queensrÿche Shows in amerikanischen Militärbasen, zudem bereiste der Sänger im Sommer vergangenen Jahres den Irak. „Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen, diese Erfahrungen haben mein Leben verändert“, betont er heute. War er seinerzeit geschockt? „Nun, zumindest rannte ich dort permanent mit weit aufgerissenen Augen herum.“
Einige dieser Eindrücke hängen ihm auch gut ein Jahr später noch nach. Zudem war Tate zeitlebens ein nachdenklicher Mensch – er hasst Oberflächlichkeit und Ignoranz, möchte dieser Welt mehr geben als nur Plattitüden, Lippenbekenntnisse oder halbgare Zeugnisse seiner überbordenden Kreativität. Deswegen schrieb er OPERATION: MINDCRIME und AMERICAN SOLDIER, und deswegen hat er nun auch das aktuelle Album DEDICATED TO CHAOS in Angriff genommen. „AMERICAN SOLDIER war ein politisches Werk, während sich die neue Platte mehr um soziale Fragen dreht“, erklärt der Queensrÿche-Frontmann den Ansatz des zwölften Studioalbums. Tate unternimmt darauf den Versuch, die kausalen Zusammenhänge bestimmter Handlungsmuster zu erklären, also gewissermaßen die Frage zu beantworten: Warum eigentlich machen wir Dinge so, wie wir sie machen?
„Man muss etwas von der Welt gesehen haben, um sie zu verstehen“, lautet Tates Credo. „Ich bin aufgrund meines Berufs in der glücklichen Lage, viel reisen und mir andere Kulturen anschauen zu können. Für dieses hautnahe Erleben gibt es keinen gleichwertigen Ersatz, da kann man noch so viele Bücher über ein fremdes Land gelesen haben. Wer in seinem Leben immer am gleichen Ort geblieben ist, wird diese Welt nie verstehen können.“
Und was genau hat er bis dato komplett durchdrungen in Bezug auf die Welt, die Menschen und auch sich selbst?
„Nun, eines wird mir im Laufe der Jahre immer klarer: Letztendlich prägt uns das Umfeld, in das wir
hineingeboren worden sind. Ich meine: Bill Gates hätte nie zu dem werden können, was er heute ist, wenn er als Teil einer sozialen Randgruppe aufgewachsen wäre. Gates startete sein Leben in einer privilegierten Schicht. Man muss das wissen, um seinen Erfolg erklären zu können. Sein Vater war wohlhabend, er genoss die beste Erziehung, die man sich vorstellen kann. Nur so konnte er sich zu dem entwickeln, was er heute ist. Ich dagegen stamme aus der Mittelklasse, ein Leben wie das, was Bill Gates heute führt, kann ich mir nicht einmal im Traum vorstellen. Zwischen ihm und mir bestehen riesige kulturelle Unterschiede, obwohl wir aus demselben Land beziehungsweise Kulturkreis stammen.“
Für Tate schließt sich damit automatisch die Frage an: Wenn sich schon er und der Chef von Microsoft derartig fremd sind, wie sollen dann Menschen aus Schwellenländern die Denk- und Verhaltensweisen der westlichen Hemisphäre überhaupt nur annähernd verstehen können?
Ein interessanter Ansatzpunkt, der möglicherweise zur Annäherung unterschiedlicher Gruppierungen führen könnte, wenn jemand die richtigen Erkenntnisse daraus gewinnt. Doch Lösungsmöglichkeiten bietet DEDICATED TO CHAOS bewusst nicht. „Nur das Leben selbst beantwortet die wichtigen Fragen unserer Existenz“, übt sich der Amerikaner in philosophischen Aussagen. Er, der viel vom Leben weiß, weit herumgekommen ist in der Welt, der staunend durch China und verstört durch den Nahen Osten reisen konnte, und der – obwohl bereits geschätzte 20 Millionen verkaufte Tonträger schwer – niemals selbstzufrieden geworden ist. Tate (beziehungsweise die gesamte Band) hätte sich auf den eingeheimsten Lorbeeren ausruhen können. Es wäre ein Leichtes gewesen, einfach den auf EMPIRE eingeschlagenen Weg fortzusetzen und damit sicherlich noch weit mehr Platten zu verkaufen. Doch darum geht es Tate nicht: „Musik ist nicht dazu da, sich irgendwo in einer Nische gemütlich einzurichten. Sie soll Grenzen aufbrechen, neue Horizonte öffnen – und sie darf nie berechenbar sein.“ Aus diesem Grund haben Queensrÿche ein weiteres Mal ihre Stilmittel verändert. Waren es auf AMERICAN SOLDIER vor allem die Interview-Einspielungen, die der Musik ihr kuscheliges Flair nahmen, änderte die Band diesmal vor allem musikalische Strukturen. „Es gibt kein Gesetz, das bestimmte Akkordfolgen vorschreibt“, erklärt er, „doch viele Muster schleifen sich bei einer Band, die so lange dabei ist wie wir, irgendwann automatisch ein. Daher war es an der Zeit, alles zu hinterfragen, neu zu bewerten und manchmal eben auch zu verändern.“ Und genau das haben Queensrÿche auf DEDICATED TO CHAOS getan. Neben allen sonstigen Veränderungen, versteht sich… “
Thorsten Zahn