Er gilt als introvertiert, menschenscheu und wortkarg. Dabei ist Bruce Springsteen einfach ein Rockstar der etwas anderen Art. Einer, der Familie und Privatsphäre groß schreibt, lieber die Musik sprechen lässt und sich meist nur mit Journalisten unterhält, die er auch kennt. Im Zuge der Veröffentlichung von THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY erlaubt der Boss jedoch, dass sich CLASSIC ROCK zwei Tage an seine Fersen heftet – und zeigt sogar seine Schokoladenseite.
Toronto, Mitte September 2010. In der kanadischen Boomtown, die in diesen Tagen einmal mehr Austragungsort des Toronto International Film Festivals ist, herrscht Ausnahmezustand. Denn alles, was in Hollywood Rang und Namen hat (oder gerne hätte) ist vor Ort, um sein neuestes Produkt zu bewerben, die Luxushotels und Gastro-Tempel heimzusuchen und die lokalen Bars unsicher zu machen. Was abgesperrte Straßenzüge, hohes Sicherheitsaufkommen und geschlossene Gesellschaften bedeutet. Schließlich zählen zu den diesjährigen Stars unter anderem Clint Eastwood, Robert DeNiro, Mickey Rourke, Bill Murray, Liv Tyler, Anthony Hopkins, Black Eyed Peas-Fergie und Bruce Springsteen. Eine Rock-Ikone, die die Öffentlichkeit für gewöhnlich meidet, rote Teppiche, Blitzlichtgewitter und Autogrammjäger liebt wie Schmierseife und so ziemlich der Letzte ist, den man bei einem solchen Event vermuten würde.
Doch der 61-Jährige ist sogar die heimliche Hauptattraktion der zweiwöchigen Veranstaltung. Grund dafür ist seine Dokumentation THE PROMISE: THE MAKING OF DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN, die sein Haus- und Hofregissseur Thom Zimny zusammengestellt hat und in der die vielleicht schwierigste Phase seiner gesamten Karriere reflektiert wird: die Aufnahmen zum vierten Album DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN, die 1977/78 im heimischen Proberaum in New Jersey sowie den sündhaft teuren New Yorker Record Plant Studios stattfanden. Damals tüftelte der junge, chronisch erfolglose Künstler fast anderthalb Jahre an neuen Songs, verwarf letztlich die Hälfte des aufgenommenen Materials und stand zudem unter immensem Druck: Sein Label wollte ihn wegen schwacher Verkaufszahlen feuern, Ex-Manager Mike Appel verstrickte ihn in einen langwierigen Rechtsstreit, bis zu dessen Beilegung er kein Material veröffentlichen durfte, und die Stücke, die er gerne auf Platte gebannt hätte, entsprachen nicht seinen Klangvorstellungen.
HELDEN IN UNTERHEMDEN
Deshalb feilte er mit seiner E Street Band so lange daran, bis alle kurz vor dem kollektiven Kollaps standen: völlig ausgepowert, übermüdet und in Sachen Stimmung auf dem absoluten Nullpunkt. Band-Intimus Barry Rebo begleitete das Geschehen mit einer Videokamera der ersten Generation. Sprich: im klassischen Schwarz-Weiß, mit teils grobkörnigem Touch und klassischer „Fly On The Wall“-Perspektive, also mitten im Geschehen, aber ohne Ablenkung von den Protagonisten. Zu sehen sind fertige Männer Ende 20, die absolut unsägliche Klamotten tragen (Springsteen im Ripp-Unterhemd, Little Steven im Leder-Pimp-Outfit) und deren Bärte und Haare im Verlauf der Aufnahmen immer länger und länger werden.
Diesem tristen Look setzt Thom Zimny, der Emmy- und Grammy-Gewinner, nun etwas Optimismus entgegen. So integriert er aktuelle Interviews sowie eine 2009er-Live-Performance aus dem Paramount Theatre in Asbury Park, bei der die Band das komplette DARKNESS-Album performt. Das ergibt einen spannenden Mix aus Alt und Neu, der stilvoll deutlich macht, was aus den verzweifelten Musikern von einst geworden ist: gestandene Familienväter nämlich, die sich ihren Rock’n’Roll-Traum erfüllt haben, oder – wie Organist Danny Federici – längst verstorben sind.
ED NORTONS AUSSETZER
Der Film dauert insgesamt 85 Minuten, und obwohl er durchaus auch einige Längen hat, wird er in Toronto als größte cineastische Sensation des Jahres 2010 gefeiert. Natürlich mit ordentlichem Tamtam. Angefangen mit einer Interview-Session, bei der kein Geringerer als Schauspieler Edward Norton seinen Busenkumpel Bruce verbal auf den Zahn fühlt. Was jedoch eher zur Lachnummer wird. Denn Norton mag ein begnadeter Schauspieler sein („Fight Club“, „American History X“) – als Fragesteller jedoch eignet er sich weniger, da er a) so nervös ist, dass er sich ständig verhaspelt oder komplett den Faden verliert und b) so lang bzw. komplex um den heißen Brei herumredet, dass Springsteen am Ende längst vergessen hat, worauf er eigentlich antworten soll. Und: Das Drama zieht sich letztlich grauenvoll zähe 70 Minuten hin, weil sich scheinbar niemand traut, Norton das Mikro zu entreißen. Springsteen hingegen hat sichtlich Spaß an der absurden Situation und hilft seinem Freund ein ums andere Mal aus der Patsche.
Ein Beispiel: „War da ein Punkt, eine Periode oder eine bestimmte Phase in deinem Leben, an die du dich erinnerst, und in der du dir den bewussten Übergang vom Schreiben eines guten Songs zum Malen auf einer viel größeren Leinwand vorgenommen hast? Nach dem Motto: ,Ich probiere es jetzt mal episch?‘“ Eine Formulierung, über die Bruce minutenlang nachdenken muss, ehe er loslacht und das Ganze mit einem „Ja, dieses Album, über das wir gerade reden, Mann!“ beantwortet. Einfach, weil er genießt, dass etwas nicht perfekt, sondern schlichtweg menschlich ist. Doch für Norton ist es der letzte Auftritt im Rahmen des Film-Festivals. Im weiteren Verlauf des Events wird er nicht mehr gesehen.
DER ROTE TEPPICH
Wenige Stunden später folgt dann eine Veranstaltung, bei der sich The Boss sicherlich genauso unwohl fühlt wie Ed Norton bei dem vorangegangenen Interview: die Weltpremiere von THE PROMISE: THE MAKING OF DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN in der Roy Thompson Hall. Die findet in einem gigantischen Kino statt, das mit Kuppeldecke, Kronleuchter und Plüschsitzen aufwartet und Platz für 1.500 Zuschauer bietet. Die bestehen größtenteils aus Medien-Vertretern, aber auch Hardcore-Springsteen-Fans. Sie dürfen auf der riesigen Leinwand erleben, wie sich Bruce (im Smoking) mit Gattin Patti Scialfa den Weg über den roten Teppich bahnt, von einer Linse in die nächsten lächelt, dabei aber am liebsten die große Flatter machen würde. Doch der Spießrutenlauf ist noch nicht vorbei. Erst muss Manager Jon Landau noch einmal den historischen Kontext und die Intention der Doku erklären, dann bedankt sich Bruce bei allen Beteiligten vor und hinter der Kamera und nimmt schließlich Platz in seiner Loge im ersten Rang. Dort werden er und Patti in den nächsten anderthalb Stunden exakt beobachtet (wahrscheinlich sogar mit dem einen oder anderen Nachtsichtgerät) und wirken dabei, als wären sie auf einem Präsentierteller drapiert und festgeklebt. Denn sie können die Veranstaltung nicht unbemerkt verlassen, sondern müssen bis zur letzten Minute durchhalten.
Was sie als gute Gastgeber natürlich auch tun, sämtlichen Marketingdirektoren ihrer Plattenfirma die Hand schütteln, Glückwünsche entgegennehmen und offenkundig bester Laune sind. Doch wer jetzt denkt: „Hier geht noch was!“, der sieht sich getäuscht. Für eine ausgelassene Aftershow-Party ist der 61-Jährige aus New Jersey einfach der Falsche. Und auch die Gerüchte um ein Gratiskonzert in geheimer Location erweisen sich als Ente. Den Boss zieht es vielmehr auf die Couch seiner Präsidentensuite im Interconti – wo er seine Ruhe hat.
DIE NACHWEHEN
Doch selbst wenn im Grunde wenig passiert ist: Am nächsten Morgen kann ganz Hollywood die Koffer packen. Springsteens Stipp-visite in Southern Ontario ist das einzige Gesprächsthema des Tages, zudem locken die Spekulationen um einen spontanen Live-Gig vor den Toren der „Bell Lightbox“ (dem offiziellen Festival-Gebäude an der King Street) halb Toronto (= 2,5 Millionen Einwohner) auf die Straßen. Sprich: Die Stadt steht Kopf. Dabei ist der Meister längst anderweitig verplant: Er und Patti schleichen sich heimlich in eine geschlossene Veranstaltung. Sie gehen ins „Royal Theatre“ an der College Street, ein altes Programmkino, das seine besten Tage hinter sich hat, aber über eine tolle Akustik verfügt.
In diesem ehrwürdigen Rahmen findet die Präsentation von Springsteens THE PROMISE statt. Die Doppel-CD ist in zwei Varianten erhältlich, einmal als eigenständiges Album, aber auch als Teil des opulenten Boxsets zu Ehren der remasterten Neuauflage von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN. Darin kommen die Fans neben den beiden Werken auch in den Genuss eines 80-seitiges Booklets, der „Making Of“-Doku sowie von nicht weniger als vier Stunden Live-Material von der 1978er-US-Tournee bzw. der kompletten Asbury-Performance von 2009.
Eine imposante Angelegenheit, die dem grassierenden Boxset-Wahn die vorläufige Krone aufsetzt. Denn das hier ist nicht zu toppen. THE PROMISE beinhaltet nämlich nicht weniger als 21 unveröffentlichte Stücke, die Springsteen im Rahmen der nervenaufreibenden DARKNESS-Sessions verworfen hatte. Und zwar nur aus einem Grund: Sie passten nicht zu dem, was ihm konzeptionell vorschwebte. Nämlich ein Album über das Amerika der Mittsiebziger – ein Land, dessen mystischer Traum nach Vietnam, Watergate und Mineralölkrise merklich verblasst, dessen Bevölkerung existenzielle Ängste und Sorgen hat und dringend ein Sprachrohr braucht. Einen, der auf den Punkt bringt, wie sich die Menschen fühlen und was hier schief läuft. Springsteen übernimmt den Job nur zu gerne. Nicht, um damit zu Ruhm und Geld zu gelangen, sondern um seine eigene Position zu finden – in der Gesellschaft wie in der Musikszene.
Deshalb müssen die Songs die unterschwellige Morbidität der Zeit einfangen, die richtigen Themen behandeln sowie Hoffnung und Zusammenhalt vermitteln. Motto: „Hier ist jemand, der zu euch hält.“ Springsteen, der Menschenversteher, der Freund und Helfer. Ein Retter im Unterhemd, der keinen Bedarf hat an Pop-Songs wie ›Because The Night‹, altmodischem Rock’n’Roll wie ›Fire‹, Soul, R&B und Balladen oder gar verklärter Kleinstadtromantik. All das wandert ins Archiv und gerät in Vergessenheit – bis schließlich Bonus-Material für die DARKNESS-Neuauflage gesucht wird und jemand auf diese Aufnahmen stößt, die weit mehr sind als nur Demos und Outtakes. THE PROMISE ist nicht weniger als ein vollwertiges Springsteen-Album, das auch direkt nach BORN TO RUN hätte erscheinen können – wenn Bruce es damals gekonnt bzw. gewollt hätte. Genau diese Werk stellt Springsteens Manager Jon Landau nun vor 50 geladenen Gästen im „Royal Theatre“ vor, während der Boss unbemerkt in der hintersten Sitz-reihe kauert und das Hörerlebnis genauso genießt wie alle anderen.
PASTA MIT BRUCE
Erkannt wird er erst auf dem Weg nach draußen – und prompt umlagert. Autogramme, ein paar kurze Statements, ein Foto fürs Handy und so weiter. Der Boss lässt alles geduldig über sich ergehen, bis Landau einschreitet und eine handverlesene Schar aus Label-CEOs und Journalisten (unter anderem die Chefredakteure von Mojo, Q und dem US-Rolling Stone) zum Italiener nebenan eskortiert. In dem kleinen Familienrestaurant namens „Marinella“ überschlägt sich der Besitzer fast vor Begeisterung, führt mit wilden Gesten an lange Holztafeln mit traditionellen Vorspeisen und selbstgebackenem Brot und erleidet beim Eintreffen von Springsteen fast einen Herzinfarkt.
Was folgt, ist eine Lehrstunde in Sachen Promotion alter Schule: keine unpersönliche Pressekonferenz, kein Interview-Marathon, kein oberflächlicher Smalltalk unter den Argusaugen von Bodyguards, sondern ein Star beim Tischgespräch mit Gattin, der immer wieder neue Gesichter an seine Tafel bittet, mit ihnen Kalbsschnitzel Mailänder Art und Tiramisu teilt und über Gott und die Welt sinniert. Zwar ohne Mikrofone und Aufnahmegeräte, aber mit einer Lockerheit und vor allem mit einem Redefluss, den man ihm nie zugetraut hätte. Mehr noch: Springsteen ist unterhaltsam, witzig und tischt eine Anekdote nach der anderen auf.
Als CLASSIC ROCK ihm gegenüber Platz nehmen darf, mit einem kräftigen Händedruck und einem charmanten Küsschen von der Gattin begrüßt wird, ist er bei einem Thema, an dem er so richtig Spaß hat: sein Spargeltarzan-Look in der „Making Of Doku“, angeheizt von Pattis Kommentaren der Marke „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob er nur das eine Unterhemd hat“. Bruce lacht lauthals und berichtet zudem von den Reaktionen seiner Stammhalter: „Evan und Sam haben sich das angesehen und danach gemeint, dass ich einfach nur peinlich rüberkommen würde. Doch in Wahrheit habe ich damals genauso ausgesehen wie sie heute. Und ich glaube, das hat ihnen ein bisschen Angst gemacht – denn sie sind ihrem Dad wie aus dem Gesicht geschnitten. Und welches Kind will schon wie seine Eltern sein? Das ist fast so schlimm, wie mitzuerleben, dass Papa und Mama von einer riesigen Menschenmenge beklatscht werden, wo sie doch eigentlich ausgebuht gehören. Und deswegen haben wir die Kids auch nie gezwungen, zu unseren Konzerten zu kommen. Das wäre nicht gut für ihre Psyche.“
Amüsante Einsichten, die er mit einem kräftigen Schluck Rotwein runterspült, nur um gleich zur nächsten Geschichte überzugehen. Diesmal zum Punk Rock, der ihn – das gibt er offen zu – in der DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN-Phase stärker inspiriert hat als gemeinhin angenommen. „Natürlich habe ich mitbekommen, was in England abging. Und ich fand Bands wie die Sex Pistols oder The Clash immer toll. Insbesondere ihre bissigen Texte und die unbändige Energie ihrer Performance – das hatte etwas Ansteckendes. Und ihre Songs handelten von Sachen, die relevant und wichtig waren, weil sie die Leute auf der Straße beschäftigten. Und auch wenn ich mit der Mode so gar nichts anfangen konnte, fand ich das doch sehr inspirierend. Ein paar Jahre später habe ich übrigens Joe Strummer in einer Bar in Los Angeles getroffen – zum ersten und leider auch letzten Mal. Er kam direkt auf mich zu, verzog keine Miene, und ich dachte schon: ,Jetzt kriege ich was auf die Nase!‘ – wofür auch immer. Doch was ist passiert? Joe wollte ein Autogramm von mir und hat mich zu einem Drink eingeladen. Ich war echt gerührt.“
So geht das fast 30 Minuten. Springsteen sinniert über die politische Misere in seiner Heimat, nennt Obama eine „rare Ausnahmeerscheinung, die es zu unterstützen gilt“, erweist sich als Kenner der aktuellen Musikszene, der für The Gaslight Anthem, die Kings Of Leon und Mumford & Sons schwärmt, sowie sich über seinen eigenen Status als „Elder Statesman“ des Rock amüsiert. „Es lässt sich nicht länger verheimlichen: Der Rock’n’Roll wird alt, Mann. Nur: Den neuen Dylan haben sie bislang nicht gefunden – dabei suchen sie ihn seit Anfang der Siebziger, als Bob noch jung und knackig war. Das zeigt doch, wie verrückt dieses Geschäft ist. Und dass sich echte Charaktere nicht so einfach ersetzen lassen.“
DER INNERE ZIRKEL
Wobei sich im Falle von Bruce nur sagen lässt: Gott sei Dank! Denn der Rocker nimmt sich für dieses Mittagessen geschlagene drei Stunden Zeit, macht vor keinem Thema („Die USA müssen aus Afghanistan und Irak abziehen“) und keiner noch so privaten Frage halt („Ich glaube nicht, dass meine Kinder Rockmusiker werden – sie gehen schließlich auf Elite-Unis“) und hat dabei genauso viel Spaß wie alle Anwesenden. Die dunklen Zeiten von früher sind endgültig vorbei. Die Situation ist unkompliziert und entspannt, alles wird mit viel Wein begossen und endet letztlich in einem Meer aus Umarmungen und Danksagungen. Und selbst der Patrone darf zum Schluss noch ein Erinnerungsfoto mit dem Star schießen, das nun wohl längst zwischen Danny DeVito und Wayne Gretzky hängt. Bruce jedoch nimmt gleich den nächsten Privatflieger nach Hause – während Toronto weiter von einem Gratiskonzert seines neuen Film-Festival-Lieblings träumt. Vielleicht bei der nächsten Doku. Obwohl das ein Problem werden dürfte: „Noch mehr Material gibt es nicht. Jedenfalls weiß ich nichts davon“, so Landau, der noch einen Nachschlag mit dem Boss verspricht. Allerdings nur für einen exklusiven Zirkel an Medienvertretern, mit denen Bruce seit Jahren „per Du“ ist. CLASSIC ROCK hat seine Bewerbungsunterlagen ein-gereicht und wartet auf eine entsprechende Berufung. Denn: Das nächste Springsteen-Album kommt bestimmt.
Marcel Anders
Ein Boss hält sein Versprechen – mit 21 Archivsongs im Paket mit LP-Meilenstein sowie Konzertmitschnitten und Studioimpressionen auf DVD.
Seinen unzweideutigen Ruf als grundehrliche Haut, Stimme des amerikanischen Volks und pathosfreier Komponist hat sich Bruce Springsteen im Laufe von rund vier Dekaden mit rustikalen Hymnen, vor allem aber Konzerten erspielt, die zu Glanzzeiten locker die Drei-Stunden-Grenze überschritten. An diesen Superlativen seines jüngeren Ichs muss sich die 61 Jahre alte, aber unglaublich agile Rock-Ikone heute noch messen lassen. Hoch liegt die Messlatte auch, wenn der „Boss“ verstaubte Archive sichtet, um Populäres und Bekanntes, aber auch lange Zeit Verschollenes zu Tage zu fördern. Doch mit THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY erfüllen Springsteen und die E Street Band die Erwartungen locker. Nicht Kleckern, sondern Klotzen lautet gar die Devise – zumindest in der spektakulär verpackten LIMITED EDITION DELUXE COLLECTION mit drei CDs und drei DVDs in einem verblüffend authentisch gestalteten 80-seitigen Notizbuch, das Faksimiles von Originalen und nie zuvor gesehene Fotos enthält. Der 1978 mit einiger Verspätung erschienene LP-Klassiker DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN mit Konzert-Favoriten wie ›Badlands‹, ›Adam Raised A Cain‹, ›Streets Of Fire‹ und ›Darkness On The Edge Of Town‹ ist frisch digital optimiert worden. Pures Entzücken jedoch lösen insbesondere die zum großen Teil unveröffentlicht gebliebenen 21 Tracks aus, die damals nicht den Weg aufs fertige Produkt fanden. Sie sind keine Wegwerfware, sondern verlorenen gegangene Perlen. Songs wie ›Outside Looking In‹, ›Wrong Side Of The Street‹, ›The Brokenhearted‹, ›Ain’t Good Enough For You‹, ›The Little Things (My Baby Does)‹, ›Breakaway‹ und ›The Promise‹ zeigen einen Springsteen, der kreativ auf Hochtouren läuft. Zweifellos würde THE PROMISE, das Springsteens Eindrücke nach dem internationalen Erfolg von BORN TO RUN ebenso thematisiert wie die Auseinandersetzung mit Ex-Manager Mike Appel, heutzutage als Klassiker gelten, wäre es seinerzeit erschienen. Springsteen konnte es sich gar leisten, ›Because The Night‹ Co-Autorin Patti Smith zu überlassen. An die Greg Kihn Band ging ›Rendezvous‹, Gary U.S. Bonds erhielt ›This Little Girl‹, Robert Godon und The Pointer Sisters teilten sich ›Fire‹, und Southside Johnny & The Asbury Jukes erfreuten sich an ›Talk To Me‹. Ergänzt wird die Song-Sammlung durch rund sechs Stunden Filmmaterial: Das Optimum in der Kollektion ist die anderhalbstündi-ge Doku „The Promise: The Making Of The Darkness On The Edge Of Town“ von Regisseur Thom Zimny. Sie enthält nie gezeigte Studioszenen der E Street Band aus den Jahren von 1976 bis 1978. Aus jener Periode stammen auch zahllose US-Konzertmitschnitte unter dem Titel „Thrill Mill Vault“. Auf derselben DVD befindet sich auch eine 2009 im Paramount Theatre, Ashbury Park, aufgezeichnete Aufführung sämtlicher Songs von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN. Ebenfalls komplett enthalten: ein rund dreistündiges Konzertgastspiel von 1978 im texanischen Houston. Alles in allem ein üppiges, aber dennoch bekömmliches Festtagsmahl in besinnlicher Vorweihnachtszeit – nicht nur für eingefleischte Fans von Springsteen.
Michael Köhler
Der Schattenmann
Ohne Manager Jon Landau, der ihm seit knapp vier Dekaden mit Rat und Tat zur Seite steht,
wäre Bruce Springsteen wohl nie über den Status des Provinzrockers hinausgekommen. Doch wer ist der 63-Jährige, der so viel Einfluss und Stehvermögen hat? CLASSIC ROCK macht sich auf den Weg nach New York und trifft einen gemütlichen, älteren Herrn, der längst sein eigener Mythos ist.
Zum vereinbarten CLASSIC ROCK-Termin im Sony-HQ an der Madison Avenue ist er vor allem eines: zu spät. Und zwar geschlagene drei Stunden. Nicht, weil er ein unzuverlässiger Mensch wäre oder weil er den Besuch aus Deutschland nicht ernst nehmen würde, sondern weil ihm der New Yorker Stadtverkehr einen Strich durch den Terminplan macht – und er zunächst zu einem Meeting mit dem Designer des vor wenigen Tagen veröffentlichten Boxsets THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY muss, der ihm erste Testversionen des aufwändigen Artworks vorlegt. Natürlich bei gutem Essen und teurem Wein, denn Landau ist ein Genussmensch: korpulent, mit lichtem Scheitel, feiner Brille, unbändigem Redefluss und herzhaftem Lachen. Einer, der gerne Anekdoten erzählt, aber auch mit (falschen) Legenden aufräumt und sehr direkt auf den Punkt kommt. Und der über ein riesiges musikalisches Wissen verfügt. Sei es, weil er mal Kritiker in Diensten des Magazins Rolling Stone war, zig Alben für Springsteen, aber auch Jackson Browne (THE PRETENDER) produzieren durfte, neben Bruce noch Shania Twain, Natalie Merchant oder die berüchtigten MC5 betreut hat und nicht zuletzt als Vorsitzender des Hall Of Fame-Komitees agiert. All die Posten stehen für Erfahrung, Einfluss und Macht – aber auch für die Fähigkeit, unangenehme Situationen mit stoischer Gelassenheit zu meistern. Etwa, wenn er mitten in seinen Ausführungen von nervigem Handyklingeln unterbrochen wird – und antworten muss, weil es sich um seinen Brötchengeber handelt. „Hi Boss! Ich rede gerade mit diesem Journalisten aus Deutschland. Ich versuche, unsere Platte zu hypen, aber er mag sie nicht und nimmt mich ins Kreuzfeuer. Es ist wirklich schwer, dich zu verteidigen.“ Es folgt ein herzhaftes Lachen – auf beiden Seiten. Und die Pointe: „Er sagt: ,Beim nächsten Mal machen wir es besser.‘ Ist das okay? Gut. Kann ich in einer halben Stunde zurückrufen? Prima…“ Womit die Uhr tickt, denn seinen Goldesel lässt niemand warten, nicht mal der heimliche Boss vom Boss.
Jon, 1974 hast du einen Artikel im Studentenmagazin „The Real Paper“ veröffentlicht, in dem du Bruce als die Zukunft des Rock’n’Roll preist…
Stimmt. Und ich werde bis heute danach gefragt. 36 Jahre später! (lacht)
Wobei du dich eines Zitats von Lincoln Steffens über die russische Oktober-Revolution bedient hast, oder?
Durchschaut! Lincoln war ein berühmter US-Journalist, der aus Moskau berichtet hat. Und er schrieb: „Ich habe die Zukunft gesehen, und sie passiert hier in Russland.“ Damit hat er falsch gelegen – ich hingegen hatte recht.
Wie hast du es geschafft, aus einem recht erfolglosen Künstler eine derartige Ikone zu machen?
Bruce tut immer das, was er will – und nichts anderes. Was nicht heißt, dass ich keinen Einfluss auf seine Entscheidungen hätte. Aber letztendlich trifft er sie. Doch er hatte damals, als ich BORN TO RUN als Co-Produzent betreut durfte, ein offenes Ohr für meine Ideen und Vorschläge. Daraus ergab sich schließlich alles Weitere. Ich schätze, wir sind einfach ein gutes Team.
Das seit 36 Jahren zusammenarbeitet – selten in dieser Branche…
Definitiv. Doch es in Sachen Künstlerbetreuung unterschiedliche Modelle. So kommt es vor, dass mehrere Manager eine große Firma gründen und mit ihr viele Musiker auf einmal betreuen. Ich hingegen konzentriere mich primär auf Bruce, selbst wenn ich im Laufe der Zeit auch mit einigen anderen Künstlern gearbeitet habe. Und er ist nun mal jemand, der es mag, persönliche Beziehungen aufzubauen und diese dann über längere Zeit zu pflegen. Sprich: Er ist niemand, der morgens aufwacht und sich sagt: ,Okay, ich muss jetzt mal dringend etwas verändern.‘ Bruce liebt es, sich mit Leuten zu umgeben, die er kennt und denen er vertraut. Und er weiß, dass er das bei mir kann.
Selbst wenn du ihn 1977 nicht davon abgehalten hast, mit ›Because The Night‹ und ›Fire‹ gleich zwei Welthits zu verschenken – nämlich an Patti Smith und die Pointer Sisters?
Oh Gott, was soll ich dazu sagen? (lacht) Der größte Streitpunkt zwischen Bruce und mir war immer die Auswahl der Stücke für ein Album. Und wenn er für sich einmal entschieden hat, dass ihm et-was nicht gefällt oder etwas nicht passt, dann trennt er sich einfach davon. Auch ›Because The Night‹ schaffte es nie in den engeren Kreis der Kandidaten für ein Album – obwohl wir wussten, dass der Song ein Hit war. Aber Bruce wollte ihn nicht und gab das Stück stattdessen an Patti Smith weiter. Sie hat wirklich toll dazu gesungen. Es war ein interessanter Moment, als ich ihre Version zum ersten Mal im Radio hörte. Ich dachte nur: ,Oh Mann, hätten wir es doch selbst gemacht!‘ Aber zumindest ging das Lied an eine wunderbare Person. Und mit ›Fire‹ war es dasselbe.
Nun ist mit THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY ein Album erschienen, das an eine Phase erinnert, in der es um die Karriere von Bruce nicht wirklich gut stand. Er verkaufte kaum Alben, lag im Rechtsstreit mit seinem Ex-Manager und verbrachte fast ein Jahr im Studio. Wie denkst du heute über diese Zeit?
Meine erste Reaktion nach der Premiere der Doku zu THE PROMISE (beim Toronto Film-Festival im September 2010 – Anm.d.Red.) war eine Diät. Ich kam mir im Vergleich zu damals nämlich plötzlich unglaublich dick vor. Andererseits bin ich natürlich auch unheimlich stolz, Teil dieser Geschichte zu sein und den Leuten da draußen eine Vorstellung davon zu vermitteln, worum es uns Ende der Siebziger mit DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN überhaupt ging. Deshalb unterscheidet sich diese Doku auch deutlich von all diesen Filmen, die normalerweise unter dem Motto „Making Of“ laufen. Da ist dann immer jemand, der darüber redet, wie viele Preise eine Platte gewonnen hat oder wie viele Stückzahlen von ihr verkauft worden sind. Es geht nur um den kommerziellen Aspekt. Wir dagegen haben einen Film über ein Album gedreht, das nicht besonders erfolgreich war, keine Auszeichnungen erhalten hat und von den meisten Fans auch nicht euphorisch aufgenommen wurde. Klar, ein paar Leute fanden es toll, aber ganz generell betrachtet enthielt die Scheibe keine Hits – die hatten wir ja alle verschenkt! Denn uns ging es zu diesem Zeitpunkt nicht um Geld und Ruhm, sondern oberste Priorität war: „Lasst uns toll sein! Denn dann passieren auch andere gute Dinge.“
Wobei Bruce und die Band offenbar bis an ihre Grenzen gegangen sind. Jeder, der im Film auftaucht, wirkt unglaublich müde und erschöpft.
Das sieht nicht nur so aus! (lacht) Es war die Hölle auf Erden!
Und trotzdem hat niemand die Brocken hingeworfen?
Den Teil zeigen wir nicht! (lacht) Nein, wir wollten das, was wir da angefangen hatten, irgendwie beenden – und zwar so gut wie möglich. Deshalb sagt Steve Van Zandt ja auch im Film: „Wir haben unser normales Leben aufgegeben, um dieses Album zu machen.“ Und das trifft es: DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN hat uns voll in Beschlag genommen – wir waren wie auf einem Kreuzzug.
Die 21 nicht veröffentlichten Songs der damaligen Sessions, die jetzt Teil des Boxsets bzw. der Doppel-CD THE PROMISE sind, wirken wie das fröhliche Gegenstück zu DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN – weil ihnen die unterschwellige Morbidität fehlt.
Stimmt. THE PROMISE ist poppiger als die meisten Alben von Bruce. Und es enthält viele Nummern, die wie Singles klingen. Zwar vielleicht nicht wie Singles, wie man sie im Jahr 2010 veröffentlichen würde, aber perfekt für die damalige Zeit. Und sie weisen Einflüsse auf, von denen die Springsteen-Fans gar nicht wussten. Springsteen bezieht sich eben nicht nur auf Phil Spector und die Ronettes, sondern auch auf die Beach Boys – ›Someday We’ll Be Together‹ zeigt das deutlich. Da das Material so lange im Archiv lag, hatten wir das schon völlig vergessen. Daher war es auch für Bruce eine riesige Überraschung, als er sich die Aufnahmen das erste Mal wieder anhörte. Die Tapes enthielten nämlich jede Menge guter Stücke, die zum Teil noch gar nicht fertig waren, weil Text-Passagen fehlten oder eine Gitarren- oder Bass-Spur nicht eingespielt worden war. Bruce hat sie dann mit unserem Techniker Toby Scott überarbeitet. Deshalb ist THE PROMISE für ihn auch ein „richtiges“ Album. Und meiner Meinung nach füllt es perfekt die musikalische Lücke der drei Jahre zwischen BORN TO RUN und DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN.
Ist die 2010er-Neuauflage von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN auch deshalb so opulent ausgefallen, weil das Album trotz des ursprünglichen kommerziellen Misserfolgs ein so wichtiges Album für Springsteens Karriere war?
Verhältnismäßig geringe Verkaufszahlen sagen ja nichts über die generelle Qualität der Musik aus. Bruce bringt nicht ohne Grund bis heute bei jedem Konzert vier bis fünf Stücke aus diesem Album. Also mehr als von BORN IN THE USA, der erfolgreichsten Platte, die wir je gemacht haben. Deshalb sind wir diese Wiederveröffentlichung so angegangen. Sie stellt etwas Besonderes dar, denn die Leute bekommen wirklich etwas für ihr Geld.
Wenn du das Ganze als vollwertiges Album betrachtest und so stolz darauf bist – wird es auch eine Tournee dazu geben?
Momentan gibt es keine Pläne. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Außer, dass es unwahrscheinlich ist, denn er arbeitet schon wieder an neuen Songs.
Demnach existiert auch kein Rentenplan für euch beide?
Oh, ich wollte eigentlich mit 60 in Rente gehen. Aber das ist schon so lange her, dass ich den Gedanken längst verdrängt habe. Und mir ist auch nicht zu Ohren gekommen, dass Bruce diesen Plan verfolgen würde. Also werden wir wohl so weiterarbeiten wie bisher. Und ich muss sagen, dass ich sehr dankbar bin für das anhaltende Interesse an dem, was wir da tun. Es ist wunderbar.