Der Song nahm seinen Anfang als bescheidene Instrumentaldemonstration von Schlagzeuger John Bonham auf LED ZEPPELIN II, doch als er ihn live spielte, entwickelte er ein grandioses Eigenleben.
Die erneute Betrachtung der Nahaufnahmen von dem 21-jährigen John Bonham, der ›Moby Dick‹ bei Led Zeppelins heute legendärem Auftritt im Januar 1970 in der Royal Albert Hall in London spielt, ist heute genauso beeindruckend wie damals, als die Aufnahme 2003 auf der großartigen Live-DVD-Sammlung erschien. Kraftvoll, brutal, heidnisch. Als er nach ein paar Minuten sanft die Schlagstöcke beiseitelegt und die Trommeln mit bloßen Händen spielt, wird es schamanisch. Nicht nur zaghafte Tomtoms, sondern ein Schnappen nach der Snare, Schläge auf die große Bassdrum, die Felle, die Ränder, die Becken … Bei Bonzo, wie er voll Zuneigung und Furcht genannt wurde, ging es nie nur um Musik, wenn er diese Demonstration ablieferte. ›Moby Dick‹ begann vielleicht als ein relativ bescheidener instrumentaler Füller am Ende von LED ZEPPELIN II, aber live wurde es zu einem Symbol für Bonhams aufregende Angriffslust. Kein Gesang, keine billigen Worte, sondern die schiere Action, die ganze Zeit. Wann immer ›Moby Dick‹ in den 70ern gespielt wurde, wuchs es wie Zaubersamen. Erst von der vierminütigen Albumversion zu dem 15-minütigen Höhepunkt von 1970, dann 1972 auf über 20 Minuten und an manchen Abenden sogar über 30 Minuten, als Zeppelin 1977 durch ihre letzte katastrophale US-Tournee schlingerten, je nachdem, wie viel Kokain Bonzo geschnupft hatte. Bevor er ›Moby Dick‹ spielte, griff er nach unten, holte riesige Mengen Koks aus einer Tasche zu seinen Füßen und rieb es sich über Nase und Mund. Man konnte auch – wenn man sehr genau hinhörte – eine gewisse Sensibilität in Bonhams ansonsten brutalem Angriff erkennen. Etwas fast unheimlich Zärtliches, das aus dem tiefen Gefühlsbrunnen sprach, der im Herzen seines persönlichen Schlagzeugorchesters, seiner persönlichen Verrücktheit, lauerte.
›Moby Dick‹ hat seinen Anfang einst als ›Pat’s Delight‹ genommen, benannt nach Johns geliebter Ehefrau Pat. Er liebte es, bei Zeppelin Schlagzeug zu spielen, aber er hasste das Touren. Er litt unter chronischem Heimweh, das er bewältigte, indem er unterwegs allen anderen das Leben zur Hölle machte. Und er litt zunehmend an Angstzuständen. Zu Hause war John Bonham stolzer Ehemann und Vater, wenn er auf seinem großen roten Traktor über die von Pappeln gesäumte Old Hyde Farm fahren konnte, sein Privatanwesen in der Grafschaft Worcestershire. Doch weg von seinem Bauernhof, wenn er da draußen auf US-Tournee zwischen den hellsten Hotspots der Welt umherreiste und sein zunehmend unberechenbares Verhalten jeden Abend in ›Moby Dick‹ zwängte, verwandelte er sich in Bonzo. Ein aufgebrachter französischer Plattenlabel-Manager nannte ihn „La Bête“ (das Biest), und seine ›Moby Dick‹-Show wuchs zu einem immer längeren Psychodrama. Bombastische Schlagzeugsoli gehörten nun bei allen bedeutenden Heavy-Rock-Konzerten zum guten Ton. Cream hatten damit angefangen, The Who perfektionierten es und danach fühlten sich alle anderen ebenso verpflichtet, „den Typen hinten, der alles zusammenhält“, richtig strahlen zu lassen. Die voll ausgearbeitete Version von ›Moby Dick‹ war erst das zweite Mal, dass ein Schlagzeugsolo als eigenständiger Track auf einer Rockplatte erschien (Cream kamen ihnen mit Ginger Bakers ›Toad‹ um drei Jahre zuvor). Bonzo. Das Biest.
John Bonham verschlang diese Rolle bei Zeppelin förmlich. Aber wenn ›Moby Dick‹ anstand, fielen jeden Abend auf der Bühne die Masken und Bonham knüpfte seine eigene merkwürdige Verbindung zum Universum. Als ihre Show im L.A. Forum am 31. Mai 1973 mit Bonzos 25. Geburtstag zusammenfiel, zwang das 18.000-köpfige Publikum ihn dazu, sein 20-minütiges ›Moby Dick‹ zu unterbrechen, während sie und die gesamte Gruppe und Crew ›Happy Birthday‹ für ihn sangen. „Heute 21“, kündigte Robert Plant von der Bühne aus an, „und ein Bastard sein ganzes Leben lang.“ Dann ging es weiter mit dem Heraufbeschwören von Engeln und Dämonen für das Finale von ›Moby Dick‹. Sein Geburtstagsgeschenk von der Band war ein neues Spitzenmotorrad von Harley-Davidson. John wartete nicht darauf, es nach Hause nach England zu bringen. „Er raste einfach die Hotelgänge entlang und richtete offenbar einigen Schaden an“, erinnert sich sein alter Kumpel Bev Bevan, ehemals Schlagzeuger von The Move, heute bei ELO. „Aber er bezahlte die Rechnung am nächsten Tag und sagte ihnen dann: ‚Oh, und behaltet das Motorrad.‘ Unglaublich, aber das war John.“
Unvermeidlicherweise wurde ›Moby Dick‹ der Soundtrack zur „Fantasie-Sequenz“ im Zep-Film „The Song Remains The Same“ von 1976. Seine Metamorphose von seinem gigantischen Schlagzeugsolo im Madison Square Garden in einen Bauern und Familienvater mit Stoffmütze (Pat und sein sechsjähriger Sohn Jason sind auch kurz liebevoll im Bild) und schließlich in einen Drag-Race-Draufgänger. Die epische Saga von ›Moby Dick‹ fand 1977 auf der letzten US-Tournee von Zep einen aufgeblähten und sperrigen Abschluss. An manchen Abenden dauerte Bonzos umbenanntes ›Moby Dick/Over The Top‹-Solo sogar fast 40 Minuten. Nach anderen ebenso langen Epen wie John Paul Jones’ ›No Quarter‹, das seinerseits auf 30 Minuten ausgedehnt wurde, gab es zum ersten Mal überhaupt bei einer Zeppelin-Show Unruhe im Publikum.
Denn einige Fans betrachteten diese Auswüchse als inoffizielle Toilettenpausen oder schlenderten zu den Verkaufsständen und warteten darauf, dass die „richtige“ Show weiterging. Niemand verließ jedoch seinen Platz, als ›Moby Dick‹ zum Leben erwachte. An ihrem dritten von sechs Abenden im Juni im L.A. Forum kam Keith Moon fröhlich während ›Moby Dick‹ herein und begann mitzumachen, schnappte sich Bonzos Ersatzstöcke und ließ sich zu einem wirklich mitreißenden Schlagzeugsolo nieder. Es war praktisch das letzte Mal, dass Bonzo es spielte. Als Zeppelin das nächste Mal auf Tour gingen, bei ihrer „Tour Over Europe“ 1980, stand ›Moby Dick‹ nicht mehr auf der Setlist. Inoffiziell als „Schluss mit dem Geschwafel“-Tour bezeichnet, waren die Laser, Videoleinwände, Rauchbomben und Lichter verschwunden. Stattdessen gab es eine karge schwarze Kulisse, eine stark reduzierte Anlage und die Entscheidung, alte Schlachtrösser wie ›Dazed And Confused‹, ›No Quarter‹ und – was als am bedeutsamsten empfunden wurde – ›Moby Dick‹ zu streichen. Im Zeitalter nach dem Punk waren Schlagzeugsoli strengstens verboten. Ebenso wie lange Haare und Schlaghosen. Drei Monate später war Bonzo tot. Sie sagten, es sei der Alkohol gewesen. Andere glauben, Bonzo sei mit ›Moby Dick‹ gestorben. (Aus CLASSIC ROCK #129)