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Deep Purple – Der Orient-Express

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Deep Purple – Der Orient-Express

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Purple GroupKurz nach MACHINE HEAD veröffentlichten Deep Purple 1972 ihr grandioses –  und grandios maßloses – Live-Album  MADE IN JAPAN (ab 16. Mai als remasterte Neuausgabe). Doch dann kam ihre phänomenale Karriere ins Stocken. Kollidierende Egos und ein berüchtigter „Spaghetti Vorfall“ zwangen Sänger Ian Gillan, die Band in ihrem Zenit zu verlassen.

Osaka, 15. August 1972. Deep Purple spielen zum allerersten Mal in Japan, in der Konzerthalle Kosei Nenken Kaikan. Über die letzten drei Jahre ist die Bühne zu ihrem Zuhause geworden. Das liegt nicht nur am unablässigen Touren – in diesem Jahr haben sie schon vier Nordamerika- und zwei Europatourneen sowie mehrere Auftritte in Großbritannien absolviert. Die Bühne ist zu dem Ort geworden, an dem Deep Purple – vor allem das legendäre Mk-II-Line-up – ihr Territorium abstecken und ihre musikalische Identität definieren.
Die Band hat schon lange gelernt, dass Proben für die Shows sinnlos waren. Sobald sie die Bühne entern, ist es vorbei mit der Routine. Da Gitarrist Ritchie Blackmore, Keyboarder Jon Lord und Schlagzeuger Ian Paice immer wieder nach Lust und Laune improvisieren, passieren nicht geplante – und oft großartige – Dinge.
Aber nicht heute Abend. Das zügellose Benehmen westlicher Zuschauer gewohnt, die von grünem Gras und rotem Wein benebelt sind, findet sich die Band plötzlich in unbekannten Gefilden wieder. Jedes Mitglied wird beim lässigen Betreten der Bühne mit ohrenbetäubendem Applaus begrüßt, der dann aber umgehend wieder verstummt, noch bevor sie ihre Instrumente erreichen. Das japanische Publikum sollte über die kommenden Jahre für seine Zurückhaltung berüchtigt werden, doch 1972 weiß davon noch niemand. Vor allem nicht Deep Purple.
Das Konzert beginnt viel früher, als sie es gewohnt sind. Es ist noch nicht mal 18 Uhr, als Ian Paices „Ratatat“-Beat auf Jon Lords „Tralala“-Hammond-Orgel trifft, die das Intro des Openers ›Highway Star‹ ankündigt, und eine weitere Runde höflichen, aber kurzen Applaus provoziert. Selbst der schwer zu beeindruckende Ritchie Blackmore scheint verwirrt, als er seinen schwarz gekleideten Körper um seine weiße Stratocaster windet und fassungslos ins Publikum starrt.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum Deep Purple heute nicht auf Touren kommen: Die Show wird aufgezeichnet. „Wir hatten das noch nie getan“, erzählt Bassist Roger Glover von zu Hause in der Schweiz aus. „Tatsächlich wussten wir nicht mal, wie wir überhaupt klangen, da wir davor nur Bootlegs in sehr schlechter Qualität gehört hatten. Wir hatten einfach nicht das Feuerwerk, das wir sonst hatten – wir dachten, wir dürfen das nicht vermasseln.“ Vier Jahrzehnte später hört man immer noch den Stress in seiner Stimme.
Zum Glück gibt es ein Sicherheitsnetz: Sie werden am folgenden Abend auch das zweite Konzert aufnehmen. Und da gibt es dann keinen Platz für Fehler mehr. „Es war uns dann egal“, so Glover. „Wir dachten einfach nicht mehr darüber nach und gingen ab. Weswegen das meiste Material auf dem Album vom zweiten Abend stammt.“
Das Album, von dem er spricht, ist MADE IN JAPAN, das bedeutsame Live-Doppelalbum, das später in jenem Jahr erschien. Heute gilt es als eines der besten Live-Rockalben aller Zeiten. Damals markierte es einen Meilenstein in der Geschichte von Deep Purple: Eine Spitzen-Performance, die paradoxerweise von einer Band kam, die am Rande der Selbstzerstörung war.
Als sie im August 1972 nach Japan kamen, hatte der explosive Mix aus riesigem Erfolg, kollidierenden Egos und fragwürdigem Management zu dem geführt, was Ian Gillan als „Chaoseffekt“ bezeichnet und zu irreparablen Brüchen innerhalb der Band führte. „Wir hatten uns alle im richtigen Alter kennen gelernt und die Chemie war perfekt“, sagt Gillan. „Aber das, worauf man nie vorbereitet ist, ist der Erfolg. Plötzlich spielen so viele andere Elemente mit hinein, vor allem die, die deine Persönlichkeit und deinen Charakter verändern, und folglich auch den Charakter und die Zusammensetzung der Gruppe.“
Einer, der zusah, wie alles zerfiel, war Tourmanager Colin Hart, der auch in Japan dabei war. Er saß bei Aufstieg und Fall des Mk-II-Line-ups in der ersten Reihe. „Es war eine fantastische Zeit“, sagt Hart heute. „Sie waren ganz oben, enorm beliebt, und alle Konzerte waren ausverkauft. Es war so aufregend, wahrscheinlich eines der besten Jahre, die ich je auf Tour verbracht habe. Und dann war plötzlich…alles im Arsch.“
Niemand außerhalb der Band hatte es kommen sehen. Im Gegenteil, von dem Moment an, als Gillan und Glover im Juni 1969 eingestiegen waren – als Ersatz für den ersten Sänger Rod Evans und Bassist Nick Simper –, schien der Aufstieg von Deep Purple unaufhaltsam. Das vierte Studioalbum IN ROCK positionierte sie neben Led Zeppelin und Black Sabbath als Heilige Dreifaltigkeit der Bands, die den neuen, stählernen Sound schmiedeten, der die frühen 70er definieren sollte. Noch hatte niemand daran gedacht, ihn Heavy Metal zu nennen. Es war einfach Rock ohne Grenzen: heavy, klar, aber sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich, mit viel virtuosem Licht und Schatten zwischen den gigantischen Riffs, kraftvollen Vocals und heftigen Beats. „Es gab kein Genre“, so Gillan, „keinen Rahmen. Man konnte tun, was man wollte.“
Und das taten Purple auch, vor allem auf der Bühne. Ihre Live-Auftritte waren auf halbem Weg zwischen Zeppelins Fähigkeiten, neue Gipfel der Improvisation zu erklimmen, und der entfesselten Selbstdarstellung von The Who – nicht selten endeten die Konzerte damit, dass Blackmore sein komplettes Gitarren/Verstärker-Set zertrümmerte. „Wir versuchen, das Publikum mitzureißen. Wir wollen eine Reaktion“, prahlte der Gitarrist 1971 in einem Interview. „Ich finde, das ist viel ehrlicher, als mit der Einstellung auf die Bühne zu gehen, dass du nichts tun musst außer dastehen und spielen, weil du der tollste Musiker der Welt bist.“
Wenn man Blackmores Zerstörungsorgien betrachtete, kam man nicht umhin, sich zu wundern, ob sie ein Ausdruck seines Frusts über seine Bandkollegen waren. Deep Purple hatten schon immer einen explosiven Mix von Persönlichkeiten, und mit Gillan kam ein weiteres beachtliches Ego dazu. Die Spannungen zwischen diesem Energiebündel und dem gesetzteren Gitarristen wurden schon bei FIREBALL 1971 offensichtlich. „Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sie einander nicht mögen“, so Ian Paice. „Sie sind einfach komplett verschieden.“
„Ian Gillan ist ein bodenständiger Kerl, ein Naturtyp“, so Roger Glover. „Er zieht sich aus und springt in jeden Fluss. Und das ist das Gegenteil von Ritchie Blackmores Verhalten. Bei FIREBALL hatte Ritchie Ideen für Melodien, die Ian nicht singen wollte oder nicht sang. Ritchie frustrierte das sehr. Er wollte mehr Kontrolle haben. Aber es soll ja eine demokratische Band sein, und es ist schwer, Kontrolle zu haben, außer man wird ein Diktator. Und das ist wohl…“ Der Bassist hält inne und formuliert seinen Gedanken neu. „Ritchie ist immer sich selbst zuerst treu geblieben und der Band an zweiter Stelle. Er sieht das sogar als Stärke an. Und wenn du mitlaufen darfst, hast du Glück. Eine Zeitlang.“
Glover wurde zum Vermittler zwischen den beiden. „Roger versuchte immer, den Frieden zu bewahren“, erinnert sich Colin Hart. „Er machte sich große, große Sorgen, wenn es nicht richtig lief, sogar mehr als das Management. Roger nahm es sich zu Herzen.“
Die wachsenden Streitereien ließen vermuten, dass das nächste Album ein Reinfall zu werden drohte. Die Vorzeichen waren jedenfalls nicht gut, als die ersten Sessions, die für den November 1971 geplant waren, abgesagt werden mussten, nachdem Gillan nach der Hälfte der US-Tour Hepatitis bekam. Als sie sich dann in Montreux einfanden, suchte sie die nächste Katastrophe heim, als der Casino-Komplex, in dem sie untergekommen waren, bei einem Frank-Zappa-Konzert niederbrannte – ein Ereignis, das ›Smoke On The Water‹ inspirierte. MACHINE HEAD wurde letztlich im eiskalten, in der Nebensaison geschlossenen Grand Hotel am Rand von Montreux mit dem mobilen Studio der Rolling Stones aufgenommen. Erstaunlicherweise schweißten diese Widrigkeiten die Band zusammen. „Das waren wir gegen den Rest der Welt“, so Glover, „also herrschte auf diesem Album ein tolles Gefühl der Kameradschaft.“
MACHINE HEAD erschien im März 1972, wurde Deep Purples erstes Top-10-Album in den USA und hielt sich dort zwei Jahre in den Charts. Als sie ein paar Monate später nach Japan flogen, waren sie kommerziell wie künstlerisch auf ihrem Zenit.
„Wir hatten das Selbstvertrauen, das einem der Erfolg gibt“, so Glover. „Es herrschte immer das Gefühl, dass wir niemandem folgen wollten. Wenn du jemandem folgst, bist du nur am zweitbesten. Wenn du der Musik wegen dabei bist, musst du sowieso dein Ding machen. So erlangt eine Band echten Ruhm, und genau das wollten wir.“

Wie sich jedoch herausstellte, war der Erfolg von MACHINE HEAD wenig mehr als ein Pflaster auf die Wunden innerhalb der Band. Ihre erste Japantournee war für den August 1972 gebucht, doch davor sollten sie in einer sonnigen Villa vor den Toren Roms mit den Arbeiten zum nächsten Album beginnen. Zumindest war das der Plan. Ian Gillan knirscht heute mit den Zähnen, wenn er über diese Sessions spricht: „Da sind wir, mitten im Sommer in diesem glühend heißen Haus in Italien ohne Klimaanlage, und Ritchie war einfach nicht aufgekreuzt. Zwei Wochen saßen wir einfach nur rum. Dann taucht er auf und wir erfahren, dass er am anderen Ende der Stadt in einem anderen Hotel ist, und er wird entscheiden, wann er vorbeikommt und wer dann im Proberaum sein wird und blablabla. Zu diesem Zeitpunkt war der Größenwahnsinn außer Kontrolle geraten.“
Während ihrer drei Wochen dort nahmen sie nur zwei Stücke auf, von denen letztlich nur einer auf dem kommenden Album Verwendung finden sollte – als Backing-Track zu ›Woman From Tokyo‹.
Die angespannte Stimmung hielt an, als die Band ein paar Wochen später ins Flugzeug nach Japan stieg. Als sie landeten, wurde ihnen schnell klar, wie andersartig dieses Land war – was sie immerhin einander näher brachte. „Das war eine ganz schöne Lektion in Demut“, sagt Gillan über diesen ersten Besuch. „Ich lernte so viel auf dieser Tour, dass es mir plötzlich die Augen öffnete. Etwa das ganze Prinzip des Verbeugens, der Höflichkeit und Bescheidenheit als erhebende Erfahrung für einen selbst, nicht als Unterwürfigkeit anderen gegenüber. Das ist etwas, das der Westen immer komplett falsch versteht. Ich fand es einfach nur umwerfend. Die Teezeremonie verkörpert all das für mich. War das etwas, das ich erwartet hatte? Es war jedenfalls unglaublich.“
Sie machten auch Bekanntschaft mit weniger noblen Gepflogenheiten. In jenen Tagen wurden Rockbands auf Visite in den Badehäusern – oder „Seifenländern“, wie sie genannt wurden – von Geishas in Kimonos unterhalten, die ihre ganz eigene Interpretation des Begriffs „Körperwäsche“ hatten. (Nach dem Beginn der AIDS-Epidemie Anfang der 80s erhielten Nicht-Japaner keinen Zugang mehr zu den Badehäusern) „Es gab bestimmte Clubs, wo man als Rockband, die über Nacht in der Stadt war, wie wahre Könige behandelt wurde“, so Gillan. „Da wa-ren jede Menge Mädchen.“
„Ich habe diese Angebote des Promoters Herrn Udo ausgiebig wahrgenommen“, kichert Colin Hart. „Wann auch immer jemand aus der Band oder der Crew hingehen wollte, kümmerte er sich darum. Abendessen und Badehäuser. Es war eigentlich etwas Ehrenhaftes, weißt du? Die Frauen kamen herein und liefen vor dir in der Lounge auf und ab. Es war hervorragend.“
„Wir hatten viel Spaß“, gesteht Glover. „Außerdem konnte man ins internationale Kaufhaus gehen und billig Kameras kaufen. Wir kamen alle mit jeder Menge Objektiven und Kamerakoffern und allem Möglichen anderen Zeug nach Hause. Aber das Schöne war, dass alle so nett und freundlich waren. Ich weiß noch, wie ich nach England zurückkehrte und mich in einem italienischen Restaurant mit der Besitzerin darüber unterhielt, dass ich gerade aus Japan nach Hause gekommen bin und wie fantastisch es dort war. Und sie warf mich fast hinaus, weil ihr Mann ein Kriegsgefangener in Japan gewesen war und sie sich nicht vorstellen konnte, dass Japan irgendjemandem gefallen könnte.“
Aber die Band war nicht nur da, um die Vorzüge der japanischen Kultur zu genießen. Es stand auch Arbeit an, und zwar zwei Auftritte in Osaka und einer im legendären Budokan in Tokio. Led Zeppelins erster Besuch in Japan im Jahr zuvor hatte dort das Interesse am Heavy Rock geweckt, was Deep Purples internationales Label Warner ausnutzen wollte. Doch als die Idee eines Live-Albums für Japan angesprochen wurde, war die Band zunächst skeptisch. „Wir sagten, dass wir es nur machen, wenn wir die Kontrolle haben“, so Schlagzeuger Ian Paice. „Und wenn es nur in Japan erscheint. Als wir uns dann aber die Bänder anhörten, dachten wir, Moment mal, wir haben da was Besonderes…“
Als sie das Album mit Produzent Martin Birch abmischten, beschlossen sie, es so rein und frei von Studiotricksereien zu belassen wie möglich. Laut Glover gibt es auf dem gesamten Album nur einen einzigen Overdub. „Das war am Ende des ersten großen Crescendos bei ›Child In Time‹, wo die Musik aufhört und es einen Moment lang absolut still ist“, erklärt der Bassist. „Wir dachten, das klingt nicht sehr live, also fügten wir Publikumsgeräusche hinzu. Aber der Rest ist exakt so, wie wir bei den Konzerten gespielt haben.“ Als sie das fertige Album anhörten, wurde ihnen klar, wie dumm es wäre, es nur auf den japanischen Markt zu begrenzen. „Wir sagten dem Management: ‚Das ist echt verdammt gut. Wir wollen, dass es jetzt rauskommt, und wir wollen, dass es überall rauskommt!’“, so Glover.
Ironischerweise war der Albumtitel ein versteckter Seitenhieb auf die japanische Kultur, die sie inspiriert hatte. Damals war Japan noch im Wiederaufbau nach dem Krieg und seine Industrie war ein Synonym für billige Wegwerfprodukte wie Kamera- und Uhrenplagiate. „Das Label ‚Made In Japan’ stand damals in England für totale Billigware“, sagt Gillan kleinlaut. „Der Titel war unsere amüsante Version des Begriffs. Wir gingen davon aus, dass das, was wir da machten, billig und wertlos war, weil es nur ein Live-Album war. Alle sagten uns, dass es Zeitverschwendung war.“
Tatsächlich war es alles andere als das. Als MADE IN JAPAN im Dezember 1972 in Großbritannien erschien, war es eine Offenbarung. Es hatte schon zuvor bedeutsame Live-Alben gegeben: GET YER YA-YA’S OUT von den Rolling Stones, LIVE AT LEEDS von The Who – doch das waren Einzelalben gewesen, glorifizierte Lückenbüßer, Sammlungen von Highlights, die nie das Ansehen von Studiowerken genossen. Es hatte auch gelegentlich Live-Tracks auf Studioalben gegeben, etwa von den Faces oder Cream. Sogar Live-Doppelalben waren schon erschienen, etwa PERFORMANCE: ROCKIN’ THE FILLMORE von Humble Pie aus dem Vorjahr, auf dem sich ausgedehnte Jams mit Coverversionen von Dr. John, Muddy Waters und Ray Charles fanden, aber nur ein eigenes Stück, sowie AT FILLMORE EAST von der Allman Brothers Band, ein brillanter Schnappschuss einer aufstrebenden Band, der zu ihrem Durchbruch werden sollte.
MADE IN JAPAN war jedoch das erste Mal, dass so große internationale Stars so ein ambitioniertes musikalisches Statement machten, und das an einem solchen Schlüsselmoment in ihrer Karriere, als sie kommerziell gerade in den höchsten Sphären angekommen waren.
Nicht wenige glauben, es sei auch Deep Purples dauerhaftestes Vermächtnis. Es war nicht nur ein originalgetreues Dokument ihrer Live-Show – was es so außerordentlich machte, war die Tatsache, dass es Stücke, die ohnehin schon als herausragend galten, sogar noch verbesserte. Egal welches Lied auf MADE IN JAPAN man spielt – ob ›Child In Time‹ mit all seinen Crescendos, eine Version von ›Smoke On The Water‹, in der Blackmore das Publikum mit diesem Riff prüfte, oder die 20-minütige Fassung von ›Space Truckin’‹, die die komplette vierte Seite des Doppelvinyls einnahm –, im Vergleich zu den originalen Studiotracks ist es wie der Wechsel von Schwarzweiß- auf Farbfernsehen.
Dieses Material wurde nicht einfach nachgespielt, sondern in neue, schwindelerregende Höhen geführt: länger, schneller, exaltierter. Wer das Album 1972 als Teenager hörte und auf der Gatefold-Hülle seine ersten Joints drehte, dem wurde bewusst, wie weit die Musik sich über die Grenzen nicht nur des Strophe-Vers-Formats der Popmusik, sondern auch des alten Zwei-Seiten-Vinyl-Standards hinaus entwickelt hatte. In einer Ära, die von der Virtuosität so genialer Musiker wie Hendrix und Clapton sowie Vollspektrum-Ensembles wie Zeppelin und Yes geprägt war, wurde MADE IN JAPAN plötzlich zur Apotheose von dem, was Rock erreichen, wohin er streben und zu was er sich noch entwickeln konnte.
Was wir nicht wussten: Praktisch in derselben Woche, in der MADE IN JAPAN in Großbritannien erschien, hatte Ian Gillan seine Kündigung verfasst. Er reichte sie am 7. Dez 1972 ein, nach einer ausverkauften Show in der Hara Arena in Dayton, Ohio, bei der Fleetwood Mac und Blue Öyster Cult im Vorprogramm gespielt hatten. „Und ich bekam keine Antwort“, sagt er heute. „Kein einziger Anruf, keinerlei Antwort, von niemandem. Sie dachten wohl, ‚Gott sei Dank geht er’. Also dachte ich, na dann sollte ich das auch tun.“

Wenn man Roger Glover und Ian Gillan fragt, was für ein Mensch Ritchie Blackmore in den frühen 70ern war, erhält man zwei sehr unterschiedliche Meinungen. „Ritchie war schon immer ein kantiger Typ“, so Glover. „Er lässt dich immer denken, dass er etwas weiß, das du nicht weißt, oder dass er irgendwie schlecht von dir denkt. Wenn er einen Raum betritt, verändert sich die Stimmung. Aber das ist seine Magie. Wenn er auf die Bühne geht, kannst du deine Augen nicht von ihm losreißen. Er ist einfach einer dieser Menschen, die so eine Aura haben. Und er hatte schon immer einen schelmischen Sinn für Humor, Streiche und Chaos. Er mag Chaos.“
„Machen wir uns nichts vor, er war ein Arschloch“, formuliert es Gillan etwas unverblümter. Doch der Sänger besteht darauf, dass sein Weggang von Problemen mit dem Management der Band ausgelöst wurde, nicht seinen fortlaufenden Animositäten mit dem widerspenstigen Gitarristen. „Was da hinter den Kulissen passierte, fand ich einfach nur schockierend. Ich hatte noch nie mit Leuten gearbeitet, die mir sagten, sie würden mich zurück in die Gosse werfen, wo sie mich gefunden hatten, und mir Gewalt androhten. Das war nicht schön. Das war alles andere als angenehm. Und das wirkt sich dann natürlich auch auf die Musik aus.“
Gillans Stimmung wurde vom unablässigen Arbeitspensum der Band zusätzlich belastet. Fünf Tage nach der Japantournee waren Deep Purple schon wieder in den USA auf Tour, gefolgt von weiteren Konzerten in Großbritannien. Ende Oktober fanden sie dann schließlich noch zwei Wochen Zeit, um in einem Dorf außerhalb von Frankfurt WHO DO WE THINK WE ARE fertigzustellen – was für das Mk-II-Line-up das letzte Album des Jahrzehnts werden sollte. „Das Verhältnis zwischen Blackmore und Gillan hatte einen Punkt erreicht, wo sie nicht mehr miteinander redeten“, erinnert sich Glover. Diese Spannung hört man auf dem Album. Trotz einiger packender Mo-mente wie dem Opener ›Woman From Tokyo‹ war es ein mittelmäßiges Werk und nach MADE IN JAPAN eine gewaltige Ernüchterung.
Trotz seiner Kündigung hatte Gillan zugestimmt, die nächsten sechs Monate seinen Verpflichtungen nachzukommen, auch wenn das bedeutete, dass er und Blackmore eigene Tourmanager hatten. Und ihre gegenseitigen Antipathien ließen in dieser Situation kein bisschen nach. Colin Hart erinnert sich an ein Ereignis nach einem Konzert in Cleveland, als Gillan in seiner Garderobe saß und sich nett mit Freunden unterhielt: „Ritchie kam herein, griff sich einen Teller heißer Spaghetti und schob sie direkt in Gillans Gesicht – vor allen Leuten. So fühlt sich das an, wenn einen Moment lang die Zeit stehenbleibt. Alle warteten auf diese gigantische Explosion, die gleich kommen würde. Aber das tat sie nicht. Gillan saß einfach nur ruhig da, wischte zwei Augenlöcher in die Spaghetti und sprach dann weiter, als wäre nichts passiert. Und das machte Ritchie absolut rasend, der dann aus dem Raum stürmte und irgendeinen anderen Racheakt plante.“
Nach diesem Spaghetti-Vorfall distanzierte sich Gillan von seinen Bandkollegen. Er nahm andere Flüge, stieg oft in anderen Hotels ab und vermied es, irgendjemanden zu treffen, bis er zum Konzert eintraf. „Er kam zehn Minuten vor stage-time im Auto an, ging auf die Bühne, spielte die Show und war verschwunden, bevor er irgendjemanden sah“, so Hart.
Als wolle er seine bevorstehende Freiheit zum Ausdruck bringen, schnitt er sich die schulterlangen Haare und ließ sich einen Bart wachsen. Seine Freundin Zoe begleitete ihn auf Tour. Laut Colin Hart waren sie zu den John Lennon und Yoko Ono von Deep Purple geworden. „Sie waren damals unzertrennlich“, so Hart. „Sie war überall bei ihm. Und ich weiß, dass sie beim Rest der Band nicht gerade die beliebteste Person war. Sie sagte nie ein Wort, was unheimlich war. Sie saß einfach nur da und starrte. Sie lächelte niemals, you know?“ Heute ficht das Gillan nicht an. „Der Erfolg verstärkte alles und ich muss genauso ein Arschloch gewesen sein wie Ritchie, vielleicht sogar ein noch größeres, vor allem in Bezug auf die persönliche Situation und Freundinnen und so. Das war für alle schwer.“
Zu dem Zeitpunkt war allerdings nicht nur Gillan auf dem Weg in die Freiheit. Eine Zeitlang war Glover überzeugt, dass auch Blackmore und Paice im Begriff waren, auszusteigen. „Ritchie hatte mit dem Gedanken gespielt, zu gehen und eine Band mit Phil Lynott und Paicey zu gründen“, erinnert er sich. „Sie wollten ein Trio sein.“ Glover besteht darauf, dass Tony Edwards und John Coletta, die Manager der Band, ihn und Jon Lord zum Abendessen einluden und sie fragten, ob irgendeine Chance bestand, Paice wieder zurückzuholen, damit sie mit einem neuen Sänger und neuen Gitarristen weitermachen konnten. „Soweit ich weiß, war das der Plan“, so Glover. „Jon und ich hatten mit Paicey gesprochen und er sagte: ‚Ich denke darüber nach’. Das war das letzte, was ich von ihm hörte, bis ich dieses Gefühl hatte…“

Wie es der Zufall wollte, war das letzte Konzert von Gillan mit Purple wieder in Osaka im Juni 1973, in derselben Halle, wo mehr als zehn Monate zuvor der Großteil von MADE IN JAPAN aufgezeichnet worden war. Es war bis dahin auch beschlossen worden – von Blackmore allein –, dass Roger Glover ebenfalls zum letzten Mal mit der Band zu sehen sein würde. „Ich glaube, Ritchie wollte einen Bassisten, der ein bisschen gefährlicher war, etwas virtuoser“, so Glover. „Vielleicht jemand, der auch singen konnte. Ritchie wollte Veränderung. So ist er. Er will frischen Antrieb, er will stimuliert werden. Und er sah wohl die Möglichkeit, als Gillan ging, kombiniert mit der Tatsache, dass Purple riesig waren, doch bei der Band zu bleiben. Also wurde ich herausgedrängt.“ Am Abend seines letzten Auftritts begegnete Glover Blackmore auf der Treppe. Sie hatten seit Tagen nicht miteinander gesprochen. Der Gitarrist sah seinen So-gut-wie-Ex-Bassisten an und sagte: „Es ist nichts Persönliches, nur Geschäft.“
Heute gibt Glover zu, dass er am Boden zerstört war. Hart erinnert sich, wie er ihn nach der Osaka-Show auf dem Boden seiner Garderobe sah, absolut untröstlich. „Jon und Ian ging das sehr nahe“, so Hart. „Sie versuchten, Roger zu trösten, so gut sie konnten.“ „Das war hart“, so Glover. „Ich kam damit nicht klar. Alles was ich getan hatte, war für die Band zu arbeiten, so hart ich konnte, dann sah ich, wie sich mein Leben veränderte und ich in dieser goldenen Kutsche um die Welt fuhr, und dann wird dir plötzlich der Teppich unter den Füßen weggezogen. Das war ein tiefer Fall.“
Gillan reagierte komplett anders. Er ging in einem weißen Smoking auf die Bühne und bestritt den Großteil des Konzerts mit den Händen in den Hosentaschen und einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich fühlte keinerlei Trauer“, sagt er. „Es war, als würde ich eine Last abwerfen. Diese Dinge sind so schwer zu erklären, aber Unglücklichsein ist eine mächtige Sache. Warum war ich an dem Abend so glücklich? Wahrscheinlich, weil ich nicht mehr unglücklich war.“
„Er war sehr gelassen, kühl, fast schon unheimlich“, erinnert sich Colin Hart. „Er kam einfach auf die Bühne, tat sein Bestes, ging dann lässig von der Bühne und ging zum Abendessen aus. Roger war wie erstarrt. Sie spielten ein brillante Show, aber am Ende war es sehr traurig, zu sehen, wie Roger in der Garderobe auf dem Boden saß und völlig, absolut zerstört war, weil es vorbei war.“
Hart behauptet, dass diverse Parteien versuchten, Gillan zum Bleiben zu überreden, inklusive das Management. „Ich weiß, dass Roger Ian sein Herz ausschüttete, um ihn dazu zu bringen, nicht zu gehen. Ritchie leckte sich wahrscheinlich nur die Finger und sagte [imitiert die Stimme von Mr. Burns aus den „Simpsons“]: ‚Großartig! Lasst uns fortfahren!’“
Ian Paice und Jon Lord hatten noch bis zum langen Rückflug zurück nach London am nächsten Tag die Hoffnung, die Situation lösen zu können. Aber Gillan und Zoe waren schon auf einem anderen Flug abgereist und Glover war immer noch ein hoffnungsloses Wrack. Das Mk-II-Line-up war am Ende. „Erst Tage später wurde mir endlich klar, dass Ian und Roger wirklich nicht zurückkehren würden“, sagt Paice, der am Tag des Osaka-Konzerts seinen 25. Geburtstag gefeiert hatte. Er gibt zu, dass ein gewisses Maß an Selbsterhaltungstrieb im Spiel gewesen war. Verständlich, wenn man bedenkt, dass er, Lord und Blackmore die Band von Beginn an vorangetrieben hatten und ihr musikalischer Kern waren.
„Ich war der Jüngste in der Gruppe und ich hatte nicht die Absicht, sie aufzugeben, nur weil es für die anderen beiden Jungs nicht funktioniert hatte“, sagt der Schlagzeuger heute. „Für Roger tat es mir wirklich leid. Ich frage mich manchmal, was passiert wäre, wenn wir ihn behalten hätten. Wäre Ritchie länger in der Band geblieben? [Blackmore ging nur zwei Jahre später, entfremdet von der Funk-orientierteren Richtung, die teilweise Glovers Nachfolger Glenn Hughes eingeführt hatte] Wir hätten uns wahrscheinlich einfach sechs Monate frei nehmen und uns dann wieder treffen sollen, aber Bands nahmen sich damals keine sechs Monate frei. Niemand wusste, ob eine Band mehr als zwei Jahre überstehen würde. Also tat man, was man tun musste.“

Natürlich war die Geschichte des Mk-II-Line-ups noch längst nicht vorbei. Die kreativen Höhenflüge von MADE IN JAPAN sollte es aber nie wieder erreichen. Davor sah man die meisten Live-Alben tatsächlich als genauso „billig und wertlos“ wie ein japanisches Uhrenimitat. Danach wurden Live-Doppelalben zum großen Kaliber im Arsenal jeder Band, die als Teil der Rock-Oberliga angesehen werden wollte. Für einige, z.B. Lynyrd Skynyrd (ONE FOR THE ROAD) und Thin Lizzy (LIVE AND DANGEROUS), wurden es ihre Bestseller und stellten den Höhepunkt ihrer Karrieren dar. Später wurden sie dann für andere wie Iron Maiden (LIVE AFTER DEATH) und Pink Floyd (PULSE) zum Ersatz für „Greatest Hits“-Sammlungen. Einige Künstler führten das Konzept in noch exaltiertere Höhen, indem sie Live-Doppelalben veröffentlichten, welche die kreative Entwicklung ihrer Karriere nachzeichneten, während sie manche ihrer größten Klassiker radikal überarbeiteten: Bob Dylan And The Bands BEFORE THE FLOOD von 1974 oder Joni Mitchells MILES OF AISLES aus demselben Jahr.
Heute ist MADE IN JAPAN unanfechtbar der „Big Daddy“ aller Live-Doppelalben und der Gipfel im Schaffen von Deep Purple. 40 Jahre nach dessen Erscheinen gesteht Roger Glover, dass er es sich immer noch hin und wieder anhört: „Es erstaunt mich immer noch, all die kleinen Dinge, die ich vergessen hatte. All diese Momente auf der Bühne, wo man nicht weiß, was passiert. Sie verließen sich auf einen Blick oder ein musikalisches Signal oder eine Geste, oder einfach nur Glück. Wir nannten es damals ‚Pferdeaugen’. Du weißt schon, wenn man einander ansieht, im Kopf herunterzählt und wartet, wieder einzusteigen…“

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1 Kommentar

  1. Hallo, kann mir jemand die Namen der Bandmitglieder sagen, die auf dem Foto abgebildet sind. Am besten von rechts nach links, 1. Reihe und 2. Reihe. . Vielen Dank schon mal

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